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Anschlag in Halle "Der Täter war dreimal im Laden"

Im Kiez-Döner in Halle hat ein Neonazi den 20-jährigen Kevin S. erschossen. Die Volksstimme hat mit drei Augenzeugen gesprochen.

10.10.2019, 16:13

Halle l Rifat Tekin klammert sich an die Wasserflasche, seine Hände zittern. Er steht vor dem Kiez-Döner. Ein kleiner Imbiss, in dem er seit zwei Jahren arbeitet. Ein Bistro, das es so in dieser Form nahezu in jeder Stadt Deutschlands gibt. Es sind die Läden, die wir um 3 Uhr nachts nach der Party aufsuchen, nur um dann am anderen Morgen mit Kater und Knoblauch-Fahne aufzuwachen. Ein Stück Kiez-Kultur. Ein Stück Heimat. Doch der Kiez-Döner an der Ludwig-Wucherer-Straße, der ist seit Mittwoch vor allem ein Tatort. Ein Laden, in den ein Neonazi einmarschierte und Kevin S. tötete. Ein 20-jähriger Mann, der zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Das war auch Tekin. Doch der 31-Jährige versteckte sich hinter der Ladentheke und flüchtete später durch die Hintertür. „Der Täter war dreimal im Laden“, sagt er. Beim ersten Mal hätte B.s Waffe versagt, dann sei dieser zurück zum Auto gegangen und habe eine neue Waffe geholt. Als der Neonazi das zweite Mal in den Laden kommt, trifft die Kugel das Opfer. „Er hatte ihn angeschossen, dann ist der Täter zum Auto und kam wieder“, erinnert sich Tekin. „Dann hat er noch dreimal auf ihn gefeuert und ihn getötet.“

Florian Lichtner nickt. Er wohnt in einer WG direkt neben dem Laden. „Ich habe alles von meinem Fenster aus gesehen“, sagt der 29-Jährige. „Das war surreal. Ich habe den Mann in voller Kampfmontur gesehen, wie er wild rumschießt auf der Straße.“ B. hätte ruhig gewirkt, sei nicht gerannt oder in Panik verfallen. „Er wirkte skrupellos“, so Lichtner. "Ich hatte Todesangst."

Auf die Frage hin, wie schnell die Polizei vor Ort gewesen sei, schaut Lichtner mit zusammengezogenen Augenbrauen über die Schulter. Hinter ihm stehen zwei Polizeibeamte. Er beginnt zu flüstern. So, als ob das, was er gleich sagen würde, ihm selber unangenehm ist. „Meiner Meinung nach viel zu langsam.“ Erst nach rund zehn Minuten sei ein Streifenwagen vor dem Dönerladen aufgetaucht. Vorwürfe gegen die Polizei, die würde Lichtner aber nie erheben, „denn solch eine Tat kann niemand vorahnen“.

Das tut auch Ismait Tekin nicht. Er ist nur glücklich, dass sein kleiner Bruder überlebt hat. Auch der 35-Jährige arbeitet im Kiez-Döner. Nur wenige Minuten, bevor B. den Laden stürmt, verlässt er den Imbiss für eine Besorgung in der Gütchenstraße. Keine 1000 Meter vom Kiez-Döner entfernt. Dann erhält er einen Anruf, sein Bruder berichtet panisch, was passiert ist. „Ich bin zurückgerannt, da habe ich den Mann gesehen.“ B. schießt auf Tekin. Der bringt sich hinter einem Auto in Deckung. „Dann kam auch schon die Polizei und hat zurückgeschossen.“ B. geht zu Boden, steht aber wenige Sekunden später wieder auf, setzt sich in sein Auto und flüchtet - wieder in die Schillerstraße. Tekin rennt in den Laden, sucht seinen kleinen Bruder – und findet ihn. Zwei Gäste verstecken sich auf der Toilette. Zwei andere waren während der Tat durchs Fenster im hinteren Teil des Raumes nach draußen gesprungen. S. liegt am Boden.

"Ich verstehe es nicht, was hat derjenige gewonnen? Nichts. Wir sind doch alle nur Menschen, das war einfach eine grausame Tat", sagt Tekin. Doch deshalb jetzt aus Halle wegziehen? Tekin schüttelt den Kopf. „Wir sind hier, wir bleiben hier und machen weiter. Deutschland ist auch mein Land, meine Heimat.“