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Anschlag Jüdische Gemeinde in Halle entgeht Blutbad

Rund 80 Mitglieder der jüdischen Gemeinde befinden sich zum Zeitpunkt des Anschlags in der Synagoge in Halle.

09.10.2019, 18:44

Halle l „Ja, Hallo?“ Anna Tchistova hat gerade ihr Handy gezückt. „Die Polizei ist hier, wir werden beschützt“, sagt sie. „Ich muss auflegen.“ Humboldt-straße, Halle. Es ist 15.35 Uhr. Tchistova steht gerade in der Synagoge, über die ganz Deutschland spricht. Sie ist Mitglied im Hallenser Turnverein Maccabi und heute mit rund 80 anderen jüdischen Gemeindemitgliedern – darunter auch Gäste aus den USA – in die Synagoge gekommen, um Jom Kippur zu feiern. Der höchste jüdische Feiertag. Der Versöhnungstag. Doch statt zu feiern, entgehen Tchistova und die anderen womöglich einem Blutbad. Drei Stunden zuvor: In der Synagoge sind Schüsse zu hören, berichtet der Gemeindevorsteher Max Privorozki später „Spiegel online“. Fünf bis zehn Minuten soll der Angreifer versucht haben, in die Synagoge einzudringen. Doch die Tür bleibt verschlossen. Zum Glück.

In den nächsten Stunden verdichten sich die Zeichen, dass es sich um einen antisemitischen Angriff handelt. „Es sieht nach einem gezielten Anschlag, einem Symbol aus, das man setzen wollte“, sagt Wolfgang Schneiß, Landesbeauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, gegenüber der Volksstimme. „Ich bin sehr bedrückt, es ist eine schreckliche Tat, und es hätte wohl noch schlimmer kommen können.“

Nicht nur die Jüdische Gemeinde zu Halle (Saale), alle Gemeinden weltweit begehen gestern mit Jom Kippur den höchsten Feiertag im Judentum. Den „Tag der Sühne“. Er steht im Zeichen von Umkehr und Versöhnung: Jüdische Gläubige sollen beten, fasten und Almosen geben – als Ausdruck von Reue und Sorge um ihre Mitmenschen. Ein Zeichen des Miteinanders statt des Gegeneinanders. Doch dieses Gefühl, das gerät an diesem 9. Oktober in weite Ferne für Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Für viele Menschen europa-, weltweit.

1947 wurde die Jüdische Nachkriegsgemeinde in Halle gegründet. Sechs Jahre später wird die Synagoge, die an diesem Tag in allen Nachrichten zu sehen ist, an der Humboldtstraße im Paulusviertel eingeweiht. Sie wird zu einem Ort jüdischen Lebens in Sachsen-Anhalt. Nachdem sie zuvor als Trauerhalle des jüdischen Friedhofs genutzt wurde. Doch gestern ist sie ein Schauplatz blanker Angst. 16.20 Uhr, Mittwochnachmittag. „Wir gehen gerade zum Bus, wir gehen gerade zum Bus“, wiederholt sich Tchistova. „Ich kann jetzt nicht weiterreden, wir gehen jetzt los, die Polizei ist dabei.“ Tchistova legt auf.

Währenddessen werden die Sicherheitsvorkehrungen für Synagogen deutschlandweit verstärkt. Bei Twitter formierne sich Gruppen, die vor Synagogen wachen wollen. „Wir müssen alles daran setzen, zu zeigen, dass die Jüdische Gemeinde zu Deutschland gehört“, sagt Schneiß.