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Ausbildung Polizistin für einen Tag

Reporterin Emily Engels schlüpfte für einen Tag in die Rolle der Polizeianwärterin - und stieß dabei an ihre Grenzen.

Von Emily Engels 22.08.2017, 01:01

Aschersleben l Der erste Schuss fällt mir am Schwersten. Mit zitternder Hand und rasendem Herzen versuche ich zu beachten, was mein Trainer mir gerade gesagt hat. Stabiler Stand, Körperspannung, Oberkante von Kimme und Korn müssen – stets auf das Ziel gerichtet – eine waagerechte Linie bilden und vor allem: Nerven bewahren. Der Geruch von Schwefel liegt in der Luft und erinnert mich an das Ende einer langen Silvesternacht. Doch mit einer Feier hat das heutige Training wenig zu tun. Auf dem Schießplatz der Polizei wird geübt – für den Ernstfall.

Langsam, Millimeter für Millimeter, drücke ich ab. Sekunden kommen mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Warum passiert nichts? Gerade als ich glaube, dass die Pistole gar nicht geladen ist, schießt die Patrone aus der Mündung heraus. Es fühlt sich so an, als würde mich eine unsichtbare Welle nach hinten drücken - fast verliere ich das Gleichgewicht.

Das Schießtraining ist meine letzte Station am heutigen Tag. Angefangen hat er um 7.30 Uhr morgens im Klassenzimmer. Ich bin spät dran und setze mich auf den letzten freien Platz in der ersten Reihe. Wir lernen hier keine langweiligen Mathe-Formeln oder trockene Paragraphen auswendig, sondern Dinge, die im späteren Dienstalltag meiner Kommilitonen nützlich werden könnten. Heute ist das der Umgang mit Pfefferspray.

Jeweils zum 1. März und 1. September fangen in Aschersleben Polizeischüler mit Ausbildung oder Studium an – dieses Jahr sind es insgesamt 700, das sind doppelt so viele wie in den Vorjahren. Nur ein geringer Anteil der Schüler wohnt auf dem Campus, denn hier gibt es nur 250 Betten. Und die werden bevorzugt an Minderjährige vergeben, sagt Polizeischulsprecher Martin Zimmermann. Die meisten Polizeischüler wohnen entweder in Wohnungen in Aschersleben oder pendeln.

Wer glaubt, dass fast ausschließlich Männer zur Polizei gehen, liegt falsch. Ein Blick in den Klassenraum zeigt: Es gibt hier ganz schön viele Polizeischülerinnen. Zimmermann bestätigt: „Die Frauenquote liegt derzeit bei 27 Prozent.“ Genau der richtige Anteil, findet Ausbilderin Yvonne Fiala. Denn obwohl sie den vermehrt weiblichen Nachwuchs begrüßt, sagt sie auch: „In bestimmten Bereichen braucht man einfach Kraft. Da kann eine noch so gute Technik nicht helfen.“ Damit meint sie vor allem Situationen, in denen Beamte körperlich eingreifen müssen. Etwa bei Schlägereien oder häuslicher Gewalt. Doch es komme auf die richtige Mischung an. Fiala: „Es klingt wie ein Klischee, aber Frauen können deeskalierend wirken, da sie oft zunächst mit mehr Gefühl und Empathie an die Situation herangehen.“

Dass Polizeischülerinnen auch anders können, erfahre ich schon bald in der Turnhalle am eigenen Leib. Nadine Cichy ist kleiner als ich und wirkt auf dem ersten Blick wie das nette Mädchen von nebenan. Das denke ich, bevor sie mich mit wenigen Handgriffen auf die Matte gelegt hat. Ehe ich mich versehe, hat sie meine Hände auf dem Rücken verschränkt und meinen Kopf gegen den Boden gepresst, während sie auf meinen Oberschenkeln und meinem Rücken kniet. Für mich gibt es kein Entkommen.

Und genauso soll es auch sein, sagt Trainer Robby Meier. Er ist seit über 30 Jahren bei der Polizei, seit 1995 unterrichtet er Kampfsport an der Fachhochschule. Beim Training kommt es auf die richtigen Griffe an. Darum, den Gegner in ein paar Bewegungen außer Gefecht zu setzen. Meier: „Man darf ihm nicht die geringste Chance geben.“

Vor körperlichen Kontakten dürfen die Polizeischüler keine Scheu haben. Denn im Unterricht von Robby Meier wird nicht viel Theorie durchgekaut – es wird sofort alles in die Tat umgesetzt. „Das bisschen Schweiß der Ausbildungskollegen ist harmlos“, sagt Meier. Im Dienst müsse man schließlich auf alles vorbereitet sein. „Mit Erbrochenem an der Kleidung oder Menschen, die sich wochenlang nicht geduscht haben, in Berührung zu kommen, ist keine Seltenheit“, sagt er weiter. Und ehe ich mich versehe, ist mein Kopf irgendwo auf Höhe seines Schulterbereiches eingeklemmt, gleichzeitig gibt er mir einen Kick in die Kniekehle – und ich liege zum zweiten Mal auf dem Boden.

Meine Übungspartnerin Nadine Cichy ist 33 Jahre alt und kommt aus Könnern. Seit März absolviert sie das Polizeistudium. Die zweifache Mutter hat zuvor jahrelang in einem Krankenhaus in der Funktionsdiagnostik gearbeitet. Zu unserer Gruppe gehört auch Polizeischülerin Sandra Scheunemann aus Blankenburg. Die ebenfalls 33-Jährige hat bis vor kurzem noch als Kfz-Meisterin gearbeitet.

Seit für die Bewerbung bei der Polizei das Höchstalter von 27 Jahren auf 34 Jahre angehoben wurde, sind Quereinsteiger keine Seltenheit mehr. So habe auch Nadine Cichy sofort die Chance ergriffen, sich nochmal für ihren Traumberuf zu bewerben – und es hat geklappt.

Dabei sind die Aufnahmebedingungen nach wie vor hart. Nur ein geringer Anteil der jährlich rund 4500 Bewerber ist tatsächlich für den Polizeiberuf geeignet, sagt Martin Zimmermann. Denn wer in Sachsen-Anhalt Polizist werden möchte, muss nicht nur das Sportabzeichen in Silber und das Schwimmabzeichen in Bronze haben, sondern auch mindestens 1,60 Meter groß und weder zu dick noch zu dünn sein. Auch sichtbare Narben oder Tätowierungen können das Aus für den Traumberuf bedeuten.

Erfüllt ein Bewerber diese Voraussetzungen, muss er einen Intelligenztest bestehen. Danach wird er bei der polizeiärztlichen Untersuchung genau durchgecheckt. Die Blutwerte, die Sehleistung und die Kreislaufverhältnisse müssen stimmen, auch chronische Vorerkrankungen sind ein Grund dafür, abgelehnt zu werden.

Für mich geht es weiter in das Gebäude, in dem sich die „Tatortwohnungen“ befinden. Graue, trostlos wirkende Betonwände bilden lange, verwinkelte Gänge, die zu mehreren Zimmern führen. Hier könnte die Gefahr theoretisch hinter jeder Ecke lauern – also der perfekte Ort für praktische Übungen. Heute stehen neben Verhaftungstechniken der Umgang mit Pfefferspray und Schlagstock auf dem Programm.

Für ersteres hängen Poster an den Wänden, auf denen Köpfe abgebildet sind. In Kampfhaltung arbeiten wir den Gang ab und versuchen, die Augen mit unserem Übungs-Spray aus Wasser zu treffen. Bevor wir sprühen, müssen wir „Pfeffer“ rufen – im Ernstfall ein wichtiger Hinweis für die Kollegen, wie wir es vor ein paar Stunden im Theorieteil gelernt haben.

„Junge Frau, Sie sind verhaftet.“ Ich höre die Worte meines Kommilitonen, während mein Arm mit einem Schlagstock an der Wand fixiert ist. Mit jedem Versuch zu entkommen, spüre ich einen höllischen Schmerz. Ich bin körperlich am Ende und halte meine Hände für die Handschellen bereit. In der Polizeischule ist es normal, abwechselnd in die Rolle des Bösewichts und des Beamten zu schlüpfen.

Langsam wird mir deutlich, warum man hier das Sportabzeichen in Silber braucht. Denn darauf, dass ich nur 1,66 Meter groß und eher zierlich gebaut bin, wird hier keine Rücksicht genommen. Mein Übungspartner, gegen den ich mich in einem simulierten Kampf wehren muss, ist etwa einen Kopf größer als ich und überdurchschnittlich sportlich. In dem engen Gang muss ich jetzt probieren, seinen Angriffen auszuweichen, um keine Schläge zu kassieren. Ich kapituliere und muss lachen – eine Mischung aus Verlegenheit und Hilflosigkeit. „Wer sich neben dem Training hier nicht zusätzlich fit hält, hat schlechte Karten“, sagt Yvonne Fiala und ich bereue es, dass ich das Fitness-Studio, in dem ich angemeldet bin, nicht häufiger von innen sehe.

Die Polizeischule mag auf den ersten Blick ein freundlicher Ort sein. Es herrscht dort ein Kameradschaftsgefühl, es wird oft gelacht. Doch über all dem steht die Verantwortung. Und die wird für die Polizeischüler von heute in wenigen Jahren groß sein. Denn neben der körperlichen Kraft und Intelligenz, die der Beruf fordert, ist da auch die psychische Stärke, die dringend notwendig ist. Am meisten spüre ich das beim Training auf dem Schießplatz.

Der zweite Schuss fällt mir bereits leichter. Meine Hand zittert zwar immer noch, doch ich bin jetzt besser darauf vorbereitet, was gleich kommen wird. Ein lauter Knall, der auch durch meinen Ohrenschutz hindurchdringt, gefolgt von einer Druckwelle, die ich über meine Körperspannung ausgleichen muss.

Mein Ausbilder beobachtet mich beim Schießen, lächelt und sagt: „Ehrlich gesagt, sehen Sie sehr unbeholfen aus”. Er möchte in der Zeitung nicht mit Namen genannt werden, da er früher beim Spezialeinsatzkommando war. Die Nerven beim Training zu bewahren, sei wirklich entscheidend, sagt er. Und wenn ich schon jetzt mein Zittern nicht unter Kontrolle bringen kann, bei einer Übung, wie fühlt es sich dann erst an, wenn man in der Not zielen – und abdrücken – muss? Es um Leben und Tod geht?

Mein Ausbilder hat sich mittlerweile dem eigenen Training gewidmet. Er feuert mehrmals hintereinander ab – und trifft jedes Mal millimetergenau. Dann dreht er sich kurz zu mir um und sagt zum Abschied: „Wer es hier nicht hundertprozentig hinbekommt, schafft es da draußen nie.“