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Berufswahl Tatortreiniger zwischen Maden und Fäkalien

Antje und Carsten Liebner aus Köthen beseitigen die Spuren von Verstorbenen und erhalten Einblicke in Abgründe der Gesellschaft.

Von Alexander Rekow 28.06.2018, 01:01

Köthen l Antje und Carsten Liebner setzen sich Atemschutzmasken auf, zwängen sich in weiße Schutzanzüge und ziehen sich Gummihandschuhe über. Sie stehen bei mehr als 30 Grad vor einem Mehrgeschosser in Köthen. Was sie genau erwartet, wissen die Sachsen-Anhalter noch nicht. Nur so viel: die Spuren des Todes sollen verschwinden.

An der Wohnungstür haften noch Kleberückstände des Polizei-Siegels. Vorsichtig öffnet Carsten Liebner (46) die Tür, steckt den Kopf hinein. Ein süßlicher Geruch liegt in der Luft. Ein schwerer und beißender Gestank, der sich mit nichts vergleichen lässt. So befremdlich und abscheulich, dass bei vielen Menschen der Würgereiz einsetzt. Nicht so bei den Liebners. Für die beiden Tatortreiniger ist das Alltag.

Die beiden gehen durch die kleine Einraumwohnung, verschaffen sich einen Überblick. Fast alle Möbel stammen aus DDR-Zeiten. An der Garderobe hängen Jacken, zwei Hüte warten vergeblich auf ihren Einsatz. Eine alte Zeitung samt Lesebrille liegen auf dem Tisch. „Hier ist die Person verstorben“, sagt Carsten Liebner und steht vor einem abgesessenen Dreier-Sofa. Auf und vor der Couch sind dunkle Flecken vom Leichenwasser und Erbrochenem. Antje Liebner beginnt sofort, die kontaminierten Decken und Kissen in blaue Plastiksäcke zu stopfen. Ihr Mann schaut derweil in die Küche. Der Boden ist bedeckt von Hunderten toter Fliegen. Der 46-Jähre schmeißt die verdorbenen Lebensmittel weg - alles Routine.

Als Tatortreiniger arbeitet das Ehepaar seit 2016. Eigentlich, so Liebner, war er bereits mit seinem vorherigen Geschäftsmodell als Entrümpler und Haushaltsauflöser zufrieden. Nur etwas mehr Geld hätte es sein können. Das sollte sich mit dem Anruf eines Berliner Kollegen ändern. „Er brauchte Hilfe bei einem Auftrag“, erinnert er sich. Doch sollte dieses Mal keine Messiwohnung von Unrat befreit werden, sondern die Spuren des Ablebens. Bei dem Einsatz ist schließlich die Entscheidung gefallen: „Das wollten wir auch.“

Das Problem war nur: Es gibt keine direkte oder vorgeschriebene Ausbildung zum Tatortreiniger, weswegen es auch keine verbrieften Zahlen für Deutschland oder speziell Sachsen-Anhalt gibt. Georg Haberland, Sprecher der Agentur für Arbeit Magdeburg erklärt dazu: „Der Beruf des Tatortreinigers wird den Desinfektoren zugeordnet. Mit Stichtag 30. September 2017 waren in Sachsen-Anhalt 60 Desinfektoren beschäftigt. In den vorangegangen zwei Jahre schwanke die Zahl wischen 50 und 60.“ Der Beruf ist staatlich anerkannt und kann in einem nur drei- bis vierwöchigen, kostenpflichtigen Lehrgang erlernt werden. Zu den Ausbildungsinhalten gehört natürlich der Umgang mit Desinfektionsmitteln. Außerdem werden Hygienevorschriften sowie Kenntnisse über Bakterien, Viren und Schädlinge vermittelt.

Die Liebners haben ihr Zertifikat beim Hygiene-Institut Schubert in Murnau am Staffelsee erworben. „Wir schöpfen aus 30 Jahren Erfahrung im Bereich Hygieneausbildungen und haben uns vor acht Jahren auf die Zertifizierung von Desinfektoren und geprüften Tatortreinigern spezialisiert“, berichtet Senior-Chef G. Friedemann Schubert. 53 Tatortreiniger bundesweit wurden von seinem Institut ausgebildet, fünf kamen aus Sachsen-Anhalt. Schubert-Senior schätzt die Gesamtzahl auf „rund 150. Viel mehr staatlich geprüfte Tatortreiniger gibt es in Deutschland sicher nicht, weil es nur wenige zugelassene Ausbilder gibt.“

Dabei halte er Sachkunde für extrem wichtig in diesem besonderen Berufszweig, so der Ausbildungs-Experte: „Zwei Drittel der Ausbildung sind Praxisunterricht am Tatort. Und da geht es eben nicht nur darum, mit den besonderen Umständen wie Tod, Geruch und grausame Bilder klarzukommen, sondern auch um den pietätvollen Umgang mit dem Verstorbenen und den Angehörigen.“

Das alles sind inzwischen Alltag und Selbstverständlichkeiten für Carsten Liebner und seine Frau. „Wir haben uns einen guten Ruf erarbeitet“, sagt der 46-Jährige stolz. Ob bei der Polizei, bei Behörden oder Verwaltungen, die Liebners sind gefragt. So führen den Elsdorfer aus einem Ortsteil von Köthen die Aufträge sogar bis nach Bayern. „Da hatte ein Mann seine Frau mit dem Bolzenschussgerät hingerichtet. Danach hat er sich damit selbst getötet“, erklärt er. Für seine Frau Antje bleibt ein Auftrag im vergangenen Jahr in Naumburg im Gedächtnis. „Eine Frau hat ihr 14 Monate junges Kind erstochen“, erzählt sie: „Die kleinen blutigen Fußabdrücke werde ich nicht vergessen.“

Carsten Liebner hat die Fotos der Tatorte zu Dokumentationszwecken archiviert. Suizid, Leitersturz, Mord – eine Galerie der Grausamkeit. Wenn mich mal jemand fragt, warum das so teuer ist, dann zeige ich ihm die Fotos vom Einsatz.“ Denn, so der 46-Jährige, eine Tatortreinigung, die im Übrigen immer Sache der Hinterbliebenen ist, kostet etwa das Fünffache einer Entrümplung.

In Köthen muss nun die Couch entsorgt werden. „Wenn wir das Sofa durchs Treppenhaus tragen, müssten wir danach den ganzen Weg dekontaminieren“, erklärt Carsten Liebner. Deshalb soll das Möbelstück nun durchs Fenster. Der Tatortreiniger ruft einen seiner vier Mitarbeiter an. Während sich dieser auf den Weg macht, schlägt Ehepaar Liebner das Sofa komplett in Folie ein. Unter der Couch: unzählige Speckmaden. Bei jedem Schritt knackt es unter den Füßen.

Behutsam fährt der Mitarbeiter den Lift ans Fenster. Während die Liebners das Möbelstück durch das Fenster schieben, kommt eine erboste Nachbarin unter das Fenster. Es stinke und man solle die ganze Wohnung räumen. Das sieht Carsten Liebner anders. „Wir säubern hier ausschließlich den Tatort – Haushaltsauflösung ist nicht mein Auftrag.“ Der Vermieter der Wohnung habe ihm nur das aufgetragen. Die Nachbarin verschwindet wieder grummelnd im Hausflur.

Während das Sofa durch den Mitarbeiter abtransportiert wird, kommt für die Liebners der nächste Arbeitsschritt, der Boden. Mit wenigen Handgriffen schneidet der Tatortreiniger ein zwei mal drei Meter großes Stück des Teppichs raus. Die Stelle, auf der das Sofa stand. Das Teppich-Stück landet samt Läufer ebenfalls in blauen Tüten. Dann rückt Antje Liebner den Speckwanzen und Fliegen mit einem großen Sauger zu Leibe. Der Auftrag ist abgeschlossen – fast.

Der Tatortreiniger hat eine große Sprühflasche Geruchsvernichter in der Hand. Duftnote Pfirsich. Einmal sprühen reicht für 200 Quadratmeter. Nichts für Antje Liebner, sie schnappt sich den Sauger und verlässt beinah fluchtartig die Wohnung. „Den Geruch mag sie gar nicht“, sagt ihr Ehemann und sprüht in Küche, Wohnzimmer und Flur. Wieder ist der Geruch süßlich, nur dieses Mal nicht abartig.

Wieder unten am Fahrzeug angekommen, entledigen sich beide ihrer Schutzanzüge. „Man fühlt sich wie in einem Aquarium“, stöhnt Carsten Liebner. Seine Frau muss ihm aus dem nassen T-Shirt helfen. Aus den Handschuhen kommen unzählige Schweißtropfen, die Finger sehen aus, als hätte der Tatortreiniger eine Stunde in der Badewanne gelegen.

Eineinhalb Stunden haben die beiden bei Hitze geschuftet. Auf dem Rückweg kommt Carsten Liebner auch auf die beliebte Comedy-Serie „Der Tatortreiniger“ mit Schauspieler Bjarne Mädel zu sprechen. Für ihn hat die Darstellung nichts mit der Realität zu tun. „Ich habe zwei Teile gesehen und dann für mich beschlossen, dass es Schwachsinn ist.“

Während der Heimfahrt taucht wieder der süßliche Geruch von Leichenwasser auf. „Das haftet überall dran“, sagt Carsten Liebner. An den Schuhsohlen, an Klamotten – überall.