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Polizeiboote, Fähren, Hochsee-Arbeitsschiffe, Wohnflöße und vieles mehr Binnenwerften im Schiffbau gut unterwegs

Von Oliver Schlicht 13.07.2011, 06:33

Die Werftindustrie von Sachsen-Anhalt profitiert vom Trend zu kleinen und mittleren Spezialschiffen. Dazu gehören Arbeits- und Flusskreuzfahrschiffe. Nachgefragt sind auch vielfältig einsetzbare Pontonfloßsysteme. Zu den exotischen Aufträgen gehören eine Wellness-Yacht, ein Laborschiff für den Sudan und das zukünftige Kapitänsboot des Chefs im Hamburger Hafen.

Magdeburg. Seit Monatsbeginn verkehrt die "Lemwerder II" unweit des Nordseestrandes über die Weser zwischen den Ortsteilen Bremen-Vegesack und Lemwerder. 249 Personen und 30 Pkw passen auf das 56 Meter lange und 15 Meter breite Fährschiff. Wohl kaum ein Bremer, der komfortabel die Weser passiert, wird vermuten, dass diese neue Fähre im südöstlichen Binnenland Sachsen-Anhalt konstruiert und gebaut wurde. Mitte Juni wurde die Fähre auf der Elbe in den Norden überführt. Die "Lemwerder II" war der jüngste Großauftrag für die "Schiffbau- und Entwicklungsgesellschaft Tangermünde" (SET).

"Derzeit sind wir in der Werft mit größeren Umbauten beschäftigt", berichtet SET-Geschäftsführerin Christel Börsch. So wird ein ehemaliger Muschelsauger für ein Unternehmen aus Friesland zum Spülbagger umgebaut. Das Schiff wird völlig entkernt und von der Außenhaut bis zur Maschinenanlage neu errichtet. Börsch: "Das Schiff wird sowohl in den küstennahen Bereichen der Nord- und Ostsee als auch in Flüssen wie Rhein, Weser und Elbe eingesetzt." Auch ein Eisbrecher aus der ehemaligen Eisbrecherflotte der DDR – heute im Einsatz für das Wasser- und Schifffahrtsamt Lauenburg – wird in der Werft Tangermünde derzeit umfänglich saniert.

Der wichtigste Neubau bei SET geschieht am Werftstandort Genthin. Dort befindet sich im Moment ein 21 Meter langes Polizeiboot in der Fertigung, das zukünftig für die Polizeidirektion Lindau auf dem Bodensee unterwegs sein wird. "Ein baugleiches Polizeiboot ist für den österreichischen Bereich des Bodensees ausgeschrieben. Auch um diesen Auftrag bewerben wir uns", so SET-Geschäftsführerin Christel Börsch.

Im Polizeieinsatz auf dem Bodensee

Fähren für Bremen, Polizeiboote für den Bodensee – solche Aufträge für kleine und mittlere Spezialboote liegen nach Angaben des deutschen Schiffbauerverbandes (Infokasten) derzeit im Trend. Davon profitieren auch andere Binnenwerften in Sachsen-Anhalt. Zum Beispiel zwei mittelständische Familienunternehmen aus dem Jerichower Land in Derben und Neuderben.

Die Bolle-Werft in Neuderben feiert im Herbst ihr 150-jähriges Bestehen. Mit Vater Lothar Bolle arbeiten die Söhne Mario und Marcel mit. Zum Firmenverbund gehört eine Tischlerei und ein Konstruktionsbüro. 35 Mitarbeiter beschäftigt die an einem Elbeseitenarm gelegene Bolle-Werft insgesamt. In der Werft werden Arbeitsschiffe, Fahrgastschiffe und sogenannte Aqua-Caprio-Ausflugsschiffe gebaut. "Der größte Neubau ist derzeit ein hochseetaugliches Arbeitsschiff, das nach Rendsburg bei Kiel geliefert wird", erzählt Lothar Bolle. Das 24 Meter lange Schiff – ein vier Millionen Euro teurer Auftrag – wird in diesen Tagen fertiggestellt. Die dreiköpfige Besatzung wird damit Seezeichen in der Nordsee setzen können und Vermessungsarbeiten erledigen. Es wird aber auch zur Versorgung der küstennahen Inseln eingesetzt. "Vor allem die technische Ausstattung dieses Schiffes wurde auf Kundenwunsch sehr aufwendig gestaltet", so der Werftchef.

Im Bau bei "Bolle" befindet sich derzeit ein 36 Meter langes Schiff, das sowohl als Fähre als auch als Fahrgastschiff eingesetzt werden soll. "Dat ole Land 2" – so der Name – soll noch in diesem Jahr an der Unterelbe an der Landesgrenze zwischen Niedersachsen und Schleswig-Holstein zwischen Lühe und Schulau verkehren. Ebenfalls in der Halle steht eine Yacht, die durch ein exotisches Halbbogen-Deck ins Auge fällt. Bolle: "Das wird eine Wellness-Yacht, die ein Hotelbesitzer in Plau am See in Mecklenburg-Vorpommern geordert hat. Der Halbbogen wird einen Regenbogen darstellen." Das Schiff soll als schwimmende Wohlfühlfarm die mecklenburgischen Touristen erfreuen.

Um genügend Arbeit für die nächsten Monate ist Lothar Bolle nicht bange. "Bis April 2012 bauen wir ein 62 Meter langes Fahrgastschiff für die Spree in Berlin und ein 35 Meter langes Aqua-Caprio. Verhandlungen über andere Aufträge stimmen uns zuversichtlich für die Zeit bis 2013/2014", so der Werftchef. Sowohl Lothar Bolle als auch der Inhaber der Nachbar-Werft in Derben – Hermann Barthel – bereiten den Neubau von Werfthallen vor, um das steigende Auftragsvolumen besser abarbeiten zu können.

Auch Firma "Barthel" ist ein Familienunternehmen, in dem Hermanns Ehefrau Kathrin und Tochter Corinna – studierte Maschinenbau-Ingenieurin – mitarbeiten. Die Hermann Barthel GmbH führt ihre Schiffbautradition sogar bis in das Jahr 1799 zurück. Von der Elbregion im Jerichower Land aus wurde im 19. Jahrhundert verstärkt Holz, Lehm und Kies für den Berliner Raum verschifft. Aus dieser Tradition heraus entstanden viele Binnenwerften, von denen die Betriebe Bolle und Barthel heute noch im Geschäft sind.

80 Prozent der Arbeitsboote

"Wir decken derzeit etwa 80 Prozent des deutschen Marktes für Arbeitsboote der Binnenschifffahrt ab", erzählt Hermann Barthel. 10 bis 12 kleine oder 5 bis 8 größere Arbeitsboote baut die Barthel-Werft mit 30 Mitarbeitern jährlich. Stückpreis jeweils um 600000 Euro. Wichtigste Auftraggeber sind die Wasser- und Schifffahrtsdirektionen (WSD). Gerade fertig geworden ist ein 20 Meter langer Schwimmbagger, der nach Koblenz geliefert wird. Das Auftragsvolumen betrug 2,3 Millionen Euro. Für den gleichen Auftraggeber – die WSD Südwest – baut "Barthel" in den nächsten Monaten zwei 25 Meter lange Messtechnik-Katamarane, die zur Flussprofil-Messung auf dem Rhein eingesetzt werden.

Etwas besondere Einzelanfertigungen, die "Barthel" noch in diesem Jahr ausliefern will, gehen in den Sudan und nach Hamburg. Hermann Barthel: "Für den Sudan bauen wir ein 15 Meter langes Laborboot, das auf dem Merowe-Stausee die Wasserqualität kontrollieren soll." Und im Auftrag des Hamburger Hafens wird in Derben das neue persönliche Repräsentations- und Arbeitsboot für den Hafen-Kapitän der Hansestadt gebaut. Auftragsvolumen: eine Million Euro. Mit 18 Knoten (24 km/h) fährt dieses Schiff für Hafenverhältnisse relativ schnell. Auf den Umweltschutz wird dennoch Wert gelegt. "Es gibt eine Solaranlage, und der Motor erzeugt 30 Prozent weniger Abgase", erzählt Hermann Barthel. Eine Kajüte mit Rundsitzgruppe ist mit zwei LCD-Displays ausgestattet, die auf Wunsch automatisch im Schrank verschwinden. Barthel: "Der Hafen-Kapitän wird seinen Gästen über diese Monitore den Hafen präsentieren können."

Den Bau von mobilen Marinas, Pontonflöße, die durch Aufbauten zu Restaurants, Wohnungen oder Sonnendecks werden, hat nicht nur "Barthel" im Programm. Auch die Kiebitzberg-Werft in Havelberg bedient diesen Markt. Werft-Inhaber Andreas Lewerken: "Ein privater Investor baut nahe Potsdam ein Seegrundstück touristisch aus und hat dazu bei uns acht Flöße und Hausboote bestellt." Ein Hausboot wird derzeit in einer Werkhalle in Aluminium-Bauweise gefertigt.

Waggon als Gebäudebrücke

Direkt gegenüber steht in der Halle ein anderer Aluminiumbau, der eigentlich so gar nicht in eine Schiffswerft passt: Ein Eisenbahn-Waggon. Lewerken lächelt: "Der Waggon wird von uns komplett überarbeitet und bekommt eine edle Innenausstattung, die mit dem ursprünglichen Zweck nichts mehr zu tun hat." Der "Waggonbau" ist ein Auftrag des Deutschen Paketdienstes (DPD). Zukünftig soll der Waggon symbolhaft als "hängender Postzug" zwei Gebäudeteile der DPD-Firmenzentrale in Frankfurt/Main verbinden. Den Auftrag zum Bau dieser begehbaren Brücke erhielten die Havelberger.

Denn die hochwertige Aluminiumfertigung ist eine Spezialstrecke der "Kiebitzer". Zur Firmen-Gruppe "Kiebitzberg" gehört neben der Werft auch eine große Möbel-Fertigung, die nicht nur Schiffsräume komplett ausbaut, sondern zum Beispiel auch Sparkassen und Arzpraxen ausstattet.

Und bald gibt es auch eine Kiebitzberg-Hotelanlage mit eigenem Hafen. Im August öffnet das "ArtHotel" die ersten 17 Zimmer, 2012 wird die Anlage mit 50 Zimmern fertiggestellt sein. Tochter Agnes Lewerken, Künstlerin, sorgt für die Innengestaltung des neuen Hotels. Ihr Mann, Mathias Lutter, und Sohn Florian Lewerken arbeiten ebenso wie Renate, die Ehefrau des Chefs, in anderen Unternehmensbereichen mit.

Der 70-Mitarbeiter-Familienbetrieb erwirtschaftet derzeit einen Jahresumsatz von sechs bis acht Millionen Euro. Andreas Lewerken: "Ziel ist, diesen Umsatz bis 2013 durch Erschließung neuer Geschäftsfelder auf 12 Millionen Euro zu erhöhen." Die Werft steuert in der Kiebitzberg-Gruppe etwa die Hälfte des Umsatzes bei, so der Chef. Für Schlagzeilen sorgte in diesem Jahr die Fertigung des zweiten Fahrgastschiffes im Auftrag des Staates Kasachstan. Das 21 Meter lange Schiff namens "Esil" wird derzeit in seine neue Heimat überführt.

Unter anderem werden 2011 noch ein Baggerschiff, zwölf Schwimmsteganlagen und zwei selbstfahrende Saugbaggerpontons ausgeliefert. Mit dem Innenausbau von Kreuzfahrtschiffen und Neubauten zum Beispiel von Hausbooten und Katamaranen sei die Kiebitzberg-Werft auch 2012 gut ausgelastet, sagt Andreas Lewerken.