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Brüsewitz-Tod Der Einzelkämpfer

Vor 40 Jahren verbrannte sich Oskar Brüsewitz mitten in Zeitz. Ein Blick in die Akten zeigt ein differenziertes Bild.

Von Karsten Krampitz 17.08.2016, 23:01

Zeitz l Der Pfarrer Oskar Brüsewitz verbrannte sich vor 40 Jahren selbst. Ein NVA-Soldat sollte später zu Protokoll geben, den Pfarrer noch gesehen zu haben, an jenem Mittwoch, dem 18. August 1976, in Zeitz. An der roten Ampel sei das gewesen, gegen 10.15 Uhr. Aus dem Autofenster habe er Brüsewitz rufen hören: „Halle Julia!“ (sic!) Kurz darauf stellte der Pfarrer seinen Wartburg-Kombi vor der Fußgängerzone ab, direkt gegenüber der evangelischen Michaeliskirche.

Was daraufhin geschah, beschrieb noch am selben Tag der CDU-Kreisvorsitzende Alfred Lautenschläger gegenüber der Volkspolizei: „Ich war zur Zeit des Vorfalls in unmittelbarer Nähe am Schuhhaus Teddy. Ich sah, wie diese Person (persönlich kenne ich ihn nicht) aus dem Auto ausstieg, bekleidet mit langen schwarzem Talar. Er öffnete die hintere Klappe des PKW-Kombi und ich sah, wie er Schilder herausnahm und diese auf dem Dach seines Autos befestigte. Danach nahm er eine Milchkanne aus dem Auto, hob diese auf und schüttete eine Flüssigkeit über sich. Im nächsten Moment stand er schon in Flammen. Ich ging, nachdem ich dieses gesehen hatte, sofort durch die Fischstraße zur VP, um schnellstens Hilfe zu holen. Mit zwei VP-Angehörigen ging ich sofort zum Ort des Geschehens zurück, um zu helfen. Ich machte diese auf die Transparente aufmerksam und beseitigte diese mit. Meines Erachtens können nicht viele dieses Transparent gelesen haben, da es nur kurze Zeit auf dem Auto stand und falsch zusammengestellt war.“ Der Pfarrer habe während der Handlungen keinerlei Äußerungen gemacht und seine Tat in „sagenhafter Schnelle“ ausgeführt.

Die Angaben des CDU-Politikers, dessen Kreisverband die Selbstverbrennung des Oskar Brüsewitz in den nächsten Tagen „aufs schärfste“ verurteilen sollte, decken sich im Wesentlichen mit den zu Protokoll gegebenen Aussagen anderer Zeugen. Binnen weniger Minuten hatten sich etwa dreihundert Menschen am Platz vor der Michaeliskirche versammelt. Ein Volkspolizist berichtete später: „Aufgetretene Diskussionen unter diesen Menschen waren in ihrem Inhalt gegen die Handlungsweise des Mannes gerichtet.“ Ein Mensch in Flammen! Was um Himmelswillen war passiert, dass ein Pfarrer auf eine derart spektakuläre Weise dem lieben Gott sein Leben hinwirft?

Wie Staatssicherheit und Volkspolizei noch am selben Tag ermitteln konnten, hatten in dem Moment, als Brüsewitz „zum Liegen kam“, die Glocken der Kirche angefangen zu läuten – was für ein apokalyptisches Schauspiel! Spätere Überprüfungen ließen das MfS vermuten, dass „die Gleichzeitigkeit beider Vorgänge zufälliger Natur war“. Zum selben Zeitpunkt hatte auf dem räumlich von der Kirche entfernten Friedhof ein Begräbnis stattgefunden. Dieser Beerdigung wegen sei vom Friedhof aus das Läuten telefonisch veranlasst worden. Dass sich Oskar Brüsewitz Tage zuvor am Telefon nach eben diesem Beerdigungstermin erkundigt hatte und somit wusste, wann genau in der Michaeliskirche die Glocken läuten, konnte sich beim MfS niemand vorstellen. Womöglich hatte er deshalb die Eile. Auf jeden Fall hatte der Mann Nerven: In den vorangegangenen Tagen hatte er sein eigenes Grab teilweise ausgehoben und die Stunde vor seiner Tat damit verbracht, in einer Gaststätte leere Flaschen abzugeben.

Oskar Brüsewitz erlitt an etwa 80 Prozent der Körperoberfläche überwiegend Verbrennungen zweiten Grades. Ohne dass seine Angehörigen im Kankenhaus noch einmal zu ihm gelassen wurden, erlag der Pfarrer aus Rippicha bei Zeitz vier Tage später, am 22. August, seinen Verletzungen.

Anders als in CDU und SED sollte in der DDR-Kirche bis zum Herbst ’89 niemand den wörtlichen Inhalt seiner Plakate in Erfahrung bringen können. Noch am selben Tag war der Text „Funkspruch an alle … Funkspruch an alle … Die Kirche in der D.D.R. klagt den Kommunismus an! Wegen Unterdrückung in Schulen an Kindern und Jugendlichen“ vom Vorsitzenden des Rates des Bezirkes Halle nach Berlin telegrafiert worden. Und vermutlich war dort, im SED-Politbüro, entschieden worden, die Losung auf keinen Fall weiter publik zu machen.

Welche Gründe Oskar Brüsewitz zu dieser Tat bewegt haben mögen, kann niemand mit Sicherheit sagen. „Tatsächlich ist sein Tod nicht so einfach und klar zu deuten“, so Reinhard Henkys, seinerzeit Herausgeber der in Westberlin produzierten EKD-Zeitschrift „Kirche im Sozialismus“. Ein aktueller politischer Anlass sei nicht nachweisbar und von Brüsewitz nicht genannt worden. Der kurz vorher gelaufene SED-Parteitag habe keine Verschärfung der kirchenpolitischen Situation gebracht, eher im Gegenteil. Auch sei die Erziehung der Jugend zum Hass und die Diskriminierung christlicher Kinder entgegen vielen Behauptungen in diesem Sommer 1976 nicht verschärft worden. Henkys resümierte ein halbes Jahr nach der Tat: „Die Situation, auf die Brüsewitz reagierte, bestand schon seit Jahren.“

Bis heute gibt es Stimmen, die den Tod des Pfarrers mit dem Vorwurf erklären, die Magdeburger Kirchenleitung habe Brüsewitz disziplinieren wollen. Dabei konnte Brüsewitz von seinem Bischof gar nicht versetzt werden: Er hatte zu keinem Zeitpunkt gegen Kirchenrecht verstoßen. Wegen des fehlenden Rückhalts in seinem Sprengel hatte die Kirchenleitung Brüsewitz zu einem Pfarrstellenwechsel bewegen wollen; mit einer Disziplinierungsmaßnahme hatten diese Bemühungen aber nichts zu tun.

Was der Pastor aus Rippicha eigentlich gewollt habe, fragte sich der damalige Vorsitzende des DDR-Kirchenbundes, Albrecht Schönherr. „War er ein Prophet? Sein Hang, sich in Zeichen auszudrücken, wie es die alttestamentarischen Propheten taten, scheint dies nahezulegen. Aber bei den Propheten war das Zeichen immer nur die Einleitung zur Predigt, nicht die Predigt selbst. War er ein Märtyrer? Der Märtyrer erleidet den Tod; er sucht oder er verschafft ihn sich nicht selber.“

Brüsewitz’ Mentor im Pfarrdienst, Otto Pappe, erinnerte sich viele Jahre später: „Wer Oskar Brüsewitz kannte, weiß, dass für ihn drei Begriffe ganz wichtig waren. Immer wieder gebrauchte er sie. Das waren: das Reich Gottes, der Bolschewismus und Stürmen.“ Zum Verständnis der Theologie und der politischen Überzeugungen des Oskar Brüsewitz könnten das die Schlüsselbegriffe sein. Das Reich Gottes steht im Zentrum der Verkündigung Jesu und ist somit auch ein zentraler Bergriff christlichen Glaubens. Dazu Pappe: „Als Prediger des Gottesreiches sah er (Brüsewitz) sich in einem unbedingten Gehorsam zum Herrn des Reiches. In seinem Abschiedsbrief schreibt er: ‚Mein Herr und König und General.’ Zum Reich und König gehören Gefolgschaftstreue und Gehorsam bis zum Tode. Einen anderen König gab es für ihn nicht. Dieses Denken erinnert auch an nazistisches Gedankengut.“ Man könne auch sagen, Brüsewitz folgte einem imaginären Führer. Wieder und wieder rief er seine Pfarrbrüder und -schwestern auf, mit ihm den Pfarrkreis zu stürmen. „,Stürmen’ war sein Wort. (…). Es ist ein Begriff aus der Militärsprache, und so wollte er es verstanden wissen. Er meinte den Sturmangriff auf die feindlichen Linien. Ein Sturmangriff bedeutet für den Kämpfer den höchsten Einsatz, unter Verleugnung des eigenen Lebenswillens. Er weiß nicht, ob er den Sturmangriff überleben wird. (…) Es gab nur Sieg oder Niederlage.“

In diesem Kontext bekommt der von Brüsewitz fortwährend beklagte „Bolschewismus“ in der DDR noch zusätzlich einen bitteren Beigeschmack. Brüsewitz war sich dessen bewusst. „Das war das Wort der Nationalsozialisten“, so Otto Pappe, „obwohl es nicht ihre Erfindung war. Bolschewistisch nannte sich die KPdSU selbst. Wer aber die nationalsozialistische Propaganda erlebt hat, der empfindet heute noch bei dem Wort den ganzen Hass, der zu jener Zeit mit ihm verknüpft war. ‚Der bolschewistische Untermensch’, ‚der Bolschewismus hat sich mit dem internationalen Judentum verbündet’, eine absurde Idee. Der Krieg zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion – also gegen den Bolschewismus – ist ein Kampf auf Leben und Tod, der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis. Mit dieser Ideologie ist auch Brüsewitz, wie alle jungen Menschen damals, vollgestopft worden.“ Davon zeugt auch der von einem Stasispitzel im Jahr 1964 kolportierte Brüsewitz-Ausspruch: „Ich sehe es als Wille Gottes an und begrüße es, dass Hitler die Juden vergaste.“

Der Historiker Udo Grashoff spricht für die Jahre nach 1976 in der DDR von 60 versuchten Selbstverbrennungen, von denen mindestens 49 tödlich endeten, davon die wenigsten aber politisch motiviert waren. Auch war Pfarrer Brüsewitz bei weitem nicht der einzige Geistliche in der DDR, der sein Leben aus eigenem Entschluss beendete. Allein für den Zeitraum von 1976 bis 1980 registrierte das MfS achtzehn Suizidversuche unter kirchlichen Mitarbeitern resp. deren Verwandten, von denen zwölf tödlich endeten. Doch keiner dieser Fälle, einschließlich der Selbstverbrennung des Pfarrers Rolf Günther am 17. September 1978 im vogtländischen Falkenstein, war erkennbar politisch motiviert.

In jedem Fall war Oskar Brüsewitz ein Einzelkämpfer. Der sterbende Jan Palach hatte 1969 in Prag bei seiner Selbstverbrennung noch einer ganz bestimmten gesellschaftlichen Strömung eine Stimme gegeben. Am Nachmittag seines Todes eilten 200 000 Menschen auf den Wenzelsplatz, um an der Stelle, wo er brennend zu Boden gefallen war, Blumen und Kränze niederzulegen. Beim Feuertod des Oskar Brüsewitz hat es eine solche oppositionelle Strömung 1976 nicht gegeben. Das Begräbnis des Jan Palach war eine Massendemonstration, an der sich rund zehntausend Menschen beteiligt haben. Zur Beerdigung von Oskar Brüsewitz kamen etwa 370 Leute, darunter 72 Pfarrer.

Soweit bekannt, hatte die Kirche damals im Vorfeld mindestens 500 Menschen erwartet. Dass die Stasi an jenem Tag acht Jugendliche, die an der Trauerfeier in Rippicha teilnehmen wollten, in Gewahrsam genommen hatte, soll nicht unerwähnt bleiben. Auch nicht, dass andere Jugendliche von der Polizei an der Kreisgrenze zurückgeschickt worden sind oder sich in ihren Betrieben verpflichten mussten, nicht an der Beisetzung teilzunehmen. Polizei und Staatssicherheit hat es aber auch in der Tschechoslowakei gegeben.

Jan Palach ist in seinem Land nie vergessen worden. Nicht so der Pastor aus Rippicha: Solange die DDR noch existierte, sollte kein späterer Bürgerrechtler jemals bemerken, dass an jedem 18. August die Michaeliskirche in Zeitz, vor der diese Tat geschah, verschlossen war. Und auch das Grab des Pfarrers sollte keine Pilgerstätte werden.