Kriminalität Corona und häusliche Gewalt in Sachsen-Anhalt
Die Zahl der Beratungsanfragen bei häuslicher Gewalt ist deutlich gestiegen. Interventionsstellen glauben: Das war erst der Anfang.
Magdeburg l Silke Voß hat eine dunkle Vorahnung. „Ich bin mir sicher, dass es jetzt erst richtig losgeht“, sagt die Leiterin der AWO-Interventionsstelle „Häusliche Gewalt und Stalking“ in Halle. „Mit den ersten Lockerungen haben zum Beispiel Frauen wieder Zeiträume, in denen sie sich trauen, anzurufen.“ In den vergangenen 14 Tagen hätten die Anfragen stark zugenommen, „ein Drittel mehr als sonst“. Das sind in etwa drei Anfragen pro Tag. Entweder von Betroffenen, Angehörigen oder auf Hinweis der Polizei. „Die räumliche Enge, Arbeit im Homeoffice, Isolation, all das sind riesen Herausforderungen für Familien aktuell“, so Voß.
Die bundesweite telefonische und die Online-Beratung der „Nummer gegen Kummer“ verzeichnete bereits im März deutlich mehr Beratungsanfragen. So fanden beim Elterntelefon 22 Prozent mehr Beratungen statt als im Vormonat. Bei der Chat-Beratung für Kinder und Jugendliche lag der Anstieg bei 26 Prozent.
„Bei unseren vier Beratungsstellen im Land sieht es ähnlich aus“, sagt Anke Weinreich. Die Landeskoordinatorin bei häuslicher Gewalt und Stalking Sachsen-Anhalt teilt die Sorge ihrer Kollegin: „Wir befürchten einen Ansturm.“ So erwarten Experten mit den ersten Lockerungen das Eintreten eines ähnlichen Phänomens wie zum Beispiel nach Weihnachten. „Nach den Feiertagen werden die Anfragen deutlich mehr, das wird auch nach den ersten Lockerungen so sein“, sagt Paul Stutzinger, Mitarbeiter im Landesbüro „Weisser Ring“, Deutschlands größter Hilfsorganisation für Opfer von Kriminalität.
Gewappnet sind die Interventionsstellen im Land nach eigenen Aussagen dafür nicht. So hat die Stelle der Landesintervention und -koordination bei häuslicher Gewalt und Stalking (LIK0) insgesamt 3,5 Personalstellen. Wenn jemand krankheitsbedingt ausfällt, tritt zwar eine Vertretungsregel in Kraft – personellen Spielraum gibt es dann aber nicht mehr. Und auch Voß sagt: „Ich beackere Halle, den Saalekreis, Mansfelder Land und den Burgenlandkreis, meine anderen Kollegen haben ähnlich viele Landkreise, das ist kaum zu stemmen.“
Konkrete Fallzahlen, die den Anstieg während der Pandemie belegen, gibt es derzeit noch nicht. Von einer „vagen Prognose“ zum Thema häusliche Gewalt spricht Michael Klocke, Pressesprecher des Landeskriminalamts. Zwar sei bei den Fällen in den vergangenen sechs Wochen eine „steigende Tendenz“ erkennbar. Inwieweit dies durch Quarantänemaßnahmen, Kontaktsperren, Ausgangsbeschränkungen und den Rückzug in die eigenen vier Wände bedingt sei, könne momentan aber noch nicht beurteilt werden. Aussagefähige Daten fehlen schlichtweg.
In den 19 Frauenhäusern im Land, teilte das Justizministerium mit, sei zwischen Mitte März und Ende April kein vermehrter Zulauf zu verzeichnen gewesen. Die Auslastung liege derzeit bei zirka 75 Prozent. „Auch aus anderen Bundesländern liegen Informationen vor, dass derzeit keine verstärkte Nachfrage in den Frauenhäusern zu verzeichnen ist“, sagte Ministeriumssprecher Detlef Thiel. Für jeden Schutzplatz können bis Ende des Jahres monatlich bis zu 2250 Euro für Miet- und Sachkosten beantragt werden. Dafür müssen die Träger keine Eigenmittel aufbringen. Denn: „Die Maßnahmen dienen der Vorbereitung auf einen Anstieg der Schutzanfragen und der Schaffung getrennter Unterbringungsmöglichkeiten für Risikogruppen, Verdachtsfälle oder Infizierte“, so Thiel. Agieren statt reagieren – ein Motto, das in den kommenden Wochen noch wichtiger werden dürfte.