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Lebensmittel Der echte Altmärker Braunkohl

Eine Slow-Food-Bewegung in Braunschweig will eine alte, seltene Kohl-Sorte wieder in die Gärten bringen - und hat auch Erfolg in Erxleben.

Von Susann Gebbert 17.03.2019, 00:01

Braunschweig/Erxleben l Die Florentiner haben es ihnen angetan. Mandelplättchen zusammengehalten von einer Karamellmasse. Unten umhüllt von dunkler Schokolade. Beim Kauen bleiben sie an den Backenzähnen kleben.

Regina Oestmann kauft eine Portion von dem Gebäck und stellt es auf den Bartisch in der Konditorei „Süßes Leben“ am Hagenmarkt. Sie hat den Treffpunkt im Herzen von Braunschweig wegen der „leckeren Florentiner“ ausgewählt. Dafür gibt es hier umso weniger Parkplätze.

Regina Oestmann ist in an diesem sonnigen Mittwochvormittag nicht alleine in das Café gekommen. Auch Hans-Georg Baumgarten ist mit dabei. Er kommt ein paar Minuten zu spät. Hat keinen Parkplatz gefunden. Der dritte Mann: Heiner Schrobsdorff, „der Käuterfritze“. Er ist mit dem Fahrrad gekommen, war als Erster da. Sie wollen über den Altmärker Braunkohl sprechen. „Den echten Braunkohl“, sagt Regina Oestmann. „Hier in Braunschweig sagen sie zu allem Braunkohl, auch wenn sie eigentlich den Grünkohl meinen.“

Regina Oestmann, Hans-Georg-Baumgarten und Heiner Schrobsdorff gehören der Slow-Food-Gruppe Braunschweiger Land an. Slow Food (dt. Langsames Essen) ist eine Organisation, die sich für genussvolles, bewusstes und regionales Essen einsetzt. Ihr Credo: gut, sauber, fair. Entstanden ist die Slow-Food-Bewegung Anfang der 1980er Jahre in Italien. „Als eine Gegenbewegung zum Fast Food“, erklärt Hans-Georg Baumgarten. Und Regina Oestmann ergänzt: „Es sollte wieder so gekocht werden, wie es die Nonna, die Großmutter, getan hatte.“ Von dort aus verbreitete sich die Slow-Food-Idee weltweit und kam nach dem Jahrtausendwechsel auch in Deutschland an. Über die Jahre haben sich verschiedene regionale Gruppen gebildet. So auch in Magdeburg, im Harz oder eben 2003 im Braunschweiger Land.

Regina Oestmann ist eine rundliche Frau mit weichen Zügen und einem herzlichen Lachen. Sie trägt ihr Haar kurz, den roten Lippenstift passend zu ihrer Haarfarbe. Eine winzige goldene Schnecke kriecht über ihren schwarzen Pulli. Ein Anstecker. Das Weichtier ist das Symbol der Slow-Food-Bewegung. „Braunkohl schmeckt intensiver als Grünkohl. Er hat mehr Bitterstoffe und ist kräftiger im Blatt“, schwärmt sie. Sie und ihre Mitstreiter setzen sich dafür ein, dass Lebensmittel wie der Braunkohl nicht vom Markt verschwinden, weil sie zum Beispiel nicht mehr nachgefragt werden oder weil ihr Anbau aufwendig und mühsam ist. Sie wollen, dass die Vielfalt erhalten bleibt, alte Sorten nicht in Vergessenheit geraten. Biodiversität.

Auf den Braunkohl kam die Slow-Food-Gruppe Braunschweiger Land, die heute 150 Mitglieder, aber nur zehn aktive zählt, im Jahr 2007. Genau erinnern sie sich nicht, aber irgendjemand warf das Thema Braunkohl in die Runde. Regina Oestmann, Hans-Georg-Baumgarten und Heiner Schrobsdorff hatten das Wintergemüse jahrelang nicht mehr gegessen. Hans-Georg-Baumgarten kannte es noch auch seiner Kindheit.

Bis in die 50er Jahre sei Braunkohl im Braunschweiger Land angebaut worden. „Der Winter ist eine arme Zeit. Früher waren wir auf die verschiedenen Kohlsorten angewiesen“, so Oestmann. Sie begaben sich auf die Suche nach dem Braunkohl, konnten aber kaum jemanden finden, der ihn anpflanzt. Heiner Schrobsdorf erklärt: „Es braucht viel Zeit von der Saatgewinnung bis zur essbaren Gemüsepflanze, die bis zu eineinhalb Meter groß wird. Außerdem braucht die Pflanze viel Zuwendung.“ Die Zeit nehmen sich Gärtner heute nicht, so Schrobsdorff weiter. Ihre Devise: Auf möglichst geringen Flächen möglichst viel Ertrag. Die reifen Blätter werden in der Zeit zwischen November und Februar von Hand verlesen abgezupft.

Auch aufgrund der Initiative der Gruppe werde Altmärker Braunkohl heute wieder von drei Gärtnern in der Region angebaut. Warum der Altmärker? „Im Braunschweiger Land ist die regionale Braunkohlvariante nicht mehr erhalten, der Altmärker ist eine verwandte Sorte“, erklärt Heiner Schrobsdorf. Er wird in kleinen Mengen auf Märkten verkauft.

Heiner Schrobsdorff hat als Agrar-Ingenieur und Berufsschullehrer für Landwirtschaft gearbeitet. Heute ist er Rentner und baut in seinen Gärten in Braunschweig und Winnigstedt Wilde-Ess-Kräuter an oder besser: Er lässt sie einfach wachsen. Die Erde in seinem Reich ist bedeckt von Löwenzahn, Vogelmiere oder Gänsefuß. Für ihn sind es allesamt Zutaten für einen „leckeren Salat“. Er selbst pflanzt den Altmärker Braunkohl in seinem Garten an.

Er rät Hobby-Gärtnern dazu, den Altmärker Braunkohl als Zweitfrucht nach Radieschen, Spinat oder Frühsalat im Garten anzubauen. „Die Vorsaat sollte im Juni oder Juli in einem Saatkasten erfolgen“, so Heiner Schrobsdorff. Nach 10 bis 14 Tagen könne er in Töpfchen vereinzelt und nach weiteren zwei Wochen auf etwa zehn Quadratmeter im Abstand von 45 mal 45 Zentimeter ausgepflanzt werden. Allerdings müsse man bei Feuchtigkeit auf Schnecken achten. Er empfiehlt weiter, die Pflanzen bis zum Neuaustrieb stehen zu lassen und die Seitentrieb-Röschen für einen leckeren Vorfrühlingssalat zu nutzen.

Auch die Bördergärtnerei in Erxleben pflanzt das seltene Gemüse an. Isabelle Merdon leitet die Bio-Gärtnerei gemeinsam mit ihrem Mann. Sie sagt: „Wäre die Braunschweiger Slow-Food-Gruppe nicht auf uns zugekommen, hätte wir den Braunkohl wohl erstmal aus dem Programm genommen.“ Es koste sie viel Arbeit und Zeit, ihren Kunden das Nahrungsmittel schmackhaft zu machen. Gleichzeitig bringe er nicht so viel Ertrag wie Grünkohl. Und er sei empfindlicher gegenüber Schädlingen.

Warum ihre Kunden Braunkohl nicht großartig nachfragen, weiß sie auch nicht, vermutet aber, weil sie ihn schlicht nicht kennen. Warum hält die Gärtnerei dennoch am Braunkohl fest? „Wir wollen uns mit unseren Sorten einfach ein bisschen abheben, auch mal etwas Besonders anbieten und die alten Sorten nicht in Vergessenheit geraten lassen“, sagt Isabelle Merdon. Hauptabnehmer für ihren Braunkohl ist die Gruppe um Regina Oestmann.

Seit mittlerweile neun Jahren organisiert die Braunschweiger-Land-Gemeinschaft im Januar ein Braunkohlbankett, das jedes Jahr ausgebucht ist. Vier Gänge stehen an diesem Tag auf der Speisekarte. Der Hauptgang: original Altmärker Braunkohl mit Bregenwurst, Bauchfleisch, Kassler, Kartoffeln und Queenbirne.

Auch die Queenbirne ist so ein Lebensmittel, das unterwegs in ein Supermarkt- und Fertigprodukt-Zeitalter verloren gegangen ist. Sie ist eine Kochbirne. „Aber wer kocht heute schon noch mit Birnen?“, fragt Hans-Georg-Baumgarten. Er erzählt davon, dass in seinen Kindheitstagen Essen oftmals mit der Queenbirne gesüßt wurde. Beim Braunkohlbankett wird der Kohl zusammen mit der Birne gekocht. Allerdings müssen sie dafür auf eine französische Kochbirne ausweichen, denn es gibt nur noch wenige Queenbirnenbäume in der Region.