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Wie sollen Zeitungsmacher denn wissen, was ihre Kunden erwarten? Der Volksstimme-Leser, das unbekannte Wesen

Von Dana Micke 19.08.2010, 05:58

Die Volksstimme ist für mich ein Stück Heimat", sagt der 57-jährige Leser Wilfried Zacke. "Bevor ich morgens die Zahnbürste in die Hand nehme, hole ich meine Zeitung aus dem Briefkasten."

Jürgen Werner aus dem Jerichower Land sieht in der Volksstimme eine Zeitung mit Durchhaltevermögen. "Sie hat Kriege und die Wende überlebt. Wenn sie so weitermacht, dann kann sie auch in Zukunft nichts verkehrt machen", so der 50-Jährige. Für ihn gehört die Volksstimme zur Region "wie der Mercedes-Stern zu Mercedes".

Ah, das geht runter wie Sahne. Trotzdem muss die Volksstimme wie all die anderen Tageszeitungen kämpfen. Um die Leser und ihre Aufmerksamkeit. Und wie sind die Leser? Was wollen sie? Das fragen sich die Blattmacher Tag für Tag.

Na, den Leser gibt es sowieso nicht. Schon gar nicht bei der Volksstimme. Da, wo heute Sachsen-Anhalt draufsteht, ist doch in Wirklichkeit ein Bördianer, ein Harzer, ein Altmärker, ein "Machteburjer" drin. Alle individuell, alles bunt. Und dann noch die Geschmäcker, die Ansprüche, die Interessen und Neigungen – noch individueller, noch bunter ...

Gestatten Sie mir deshalb, liebe Leser, Sie alle über einen Kamm zu scheren. Also rein in den Mixer, ordentlich durchgerührt und aus dem entstandenen Cocktail den "Standardleser" geknetet!

Und der ist ein merkwürdiges Wesen. Schätzt er es doch, wenn ein Zitat im "Zwischentitel" in größeren Buchstaben den Artikelfluss unterbricht. Dann nämlich kann er genau an dieser Stelle, in der das Zitat im Text auftaucht, aufhören und Zeit sparen. Deshalb nimmt ein guter Redakteur dafür ein Zitat, das erst am Beitragsende auftaucht. Ein Profi bietet eines an, das zwar authentisch ist, im Text aber gar nicht vorkommt.

Ein wenig verständnisvoller Leser könnte sich nun ausgetrickst fühlen. Deshalb sollte er aber dem Redakteur keine böse Absicht unterstellen. Er versucht doch nur, den verehrten Leser bei der Stange zu halten. Und das Tag für Tag. Eine schwierige wie spannende Aufgabe.

"Oft entscheidet die erste halbe Sekunde, ob der Zeitungsleser sich für einen Bericht interessiert oder nicht", erklärt Michael Haller, Professor für Journalistik und wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismusforschung (IPJ) in Leipzig. Unter seiner Leitung wurde ein Verfahren zur Analyse des Blickverlaufs für die Zeitungsnutzung entwickelt. Das sogenannte Eyetracking erlaube mit Hilfe winziger Kameras zu erkennen, wie Zeitungsseiten lesefreundlicher aufbereitet werden können.

Die tägliche Zeitungslektüre, so Haller, wird eher ausnahmsweise durch bewusste Willensakte gesteuert. "Aufmerksamkeit wird im Vorbewussten geweckt, während einer Zeitspanne von höchstens 15 bis 20 Zehntelsekunden." Entscheidend sei, dass die Aufmerksamkeit in Neugier umschlage, aus der dann ein konkretes Leseinteresse hervorgehe. "Die meisten Menschen wissen gar nicht, warum sie sich für dieses Thema interessieren und nicht für jenes."

Ja, die Leser seien doch irgendwie merkwürdig, heißt es in der Branche. Und Haller begründet das so: Wenn man sie nämlich frage, was sie gelesen hätten, kämen meist unbrauchbare Antworten. "Die Befragten sagen dem Interviewer, was sie glauben, was er von ihnen erwartet – zum Beispiel, dass diese Nachricht hier wichtig sei, jene dort aber peinlich." Wirklich gelesen hätten sie aber meist das ihnen Peinliche. Hallers Ansatz wird gestützt durch die jüngsten Erkenntnisse aus der Neurophysiologie. Im Gehirn werden infolge entsprechender Reize Entscheidungen getroffen, noch ehe der Vorgang gedacht und in einen Willensakt überführt wird. "In Bruchteilen von Sekunden selektiert und gewichtet der Nutzer noch während der Wahrnehmung", so Haller. Wenn der Zeitungsleser sich für die Lektüre eines Berichts entscheidet, "dann hat er seine Wahl schon vorher unmerklich getroffen".

Seien Sie mal ehrlich, liebe Leser, wie sollen da die Blattmacher wissen, was Sie genau erwarten? Wollen Sie wirklich "alles" wissen? Jeder Mensch hat seine Spezialgebiete, in denen er sich auskennt. Oder auch nicht. Jedenfalls vom großen Rest kann er nur Ausschnitte verarbeiten, die Welt ist geräumig und komplex, das menschliche Hirn begrenzt. Auch die Zeitung, der Redakteur kann nicht "alles" aufschreiben. "Informare" heißt unter anderem "eine Form geben". Also auswählen, filtern, destillieren - weglassen, weglassen, weglassen. Mut zum Weglassen, das Wichtige vom Unwichtigen trennen, das ist die Aufgabe der Zeitung und nicht ihr Manko.

Die Kinder des Informationszeitalters verspüren keinen Nachrichtenhunger mehr. Sie suchen nach sinnvollen Filtern, die das abfangen, was sie interessiert. Doch das raschelnde Papier bleibt nach wie vor der Ort der Reflexion, des Sortierens und des Bewertens. Analyse, Hintergrund – kompetent aufgearbeitet, aufs Lokale "heruntergebrochen". Das schafft nur die Regionalzeitung.

Vier von fünf Deutschen lesen "immer" den Lokalteil ihrer regionalen Tageszeitung. Im Vergleich: Überregionale Nachrichten lesen weit weniger als die Hälfte "immer" (35,7 Prozent), das ist das Ergebnis des Projekts "Crossmediale Mediennutzung" des Leipziger IPJ.

Tagesaktuelle Daten, was die Leute wirklich lesen, welche Artikel und bis zu welcher Zeile, gibt es erst seit wenigen Jahren.

"ReaderScan" heißt eine weitere Methode, die der Schweizer Carlo Imboden vertreibt und bei der rund 100 Menschen stellvertretend für die tatsächliche oder gewünschte Leserschaft mit einem elektronischen Stift markieren, was sie gelesen haben.

ReaderScan-Erfinder Imboden hält die Angst vor den Quoten oft für unbegründet: "Was die Leser von ihrer Zeitung erwarten, deckt sich stark mit dem, was der Journalist für wichtig hält – da gibt es keinen Widerspruch zu der wichtigen Rolle, die der Tageszeitung von der Gesellschaft in der Demokratie zugeschrieben wird."

Das Schöne ist ja, dass der Zeitungsjournalist in der Regel auch Zeitungsleser ist. Von daher dürften ihm die Bedürfnisse seiner Leser nicht allzu fremd sein.

Print ist nicht tot, aber in Bewegung, in Veränderung. Eine Weisheit bleibt: Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Das muss ja nicht bedeuten, dass der Leser mit seiner Zeitung von gestern nichts mehr anfangen kann. Auch für sie gibt es ein Leben nach dem Tode, also nachdem das zu Druckfarbe geronnene Herzblut zahlreicher Redakteure und Autoren seine Schuldigkeit getan hat. Denn vergänglich ist der Gedanke, nicht aber das Papier, auf dem er niedergebracht wurde.

Schon in der Vielfalt der Verwendungszwecke für die Zeitung von gestern oder vorgestern zeigt sich, dass die gelesene Zeitung jedem ausgedienten Fernseher oder jedem ausrangiertem Computer ganz klar überlegen ist. Auch kein anderes Papierprodukt lässt so viel Spielraum für die Sekundärnutzung wie eine Zeitung:

Der umweltbewusste Leser bringt die Volksstimme zum Recycling-Container, die Sonderbeilage in den Sondermüll.

Kinder bauen aus der Volksstimme Flugobjekte, die sie im Unterricht fliegen lassen.

Maler falten sich einen Hut aus der Volksstimme, damit beim Streichen die Farbe nicht auf ihr Haupt kleckert.

Hausfrauen zerknüllen eine Seite und benutzen sie zum Trockenreiben der geputzten Fensterscheibe, so dass ein streifenfreier Glanz entsteht.

Bistro-Besitzer legen eine zusammengefaltete Seite unter wackelnde Tische.

Pfadfinder benutzen die Volksstimme als Toilettenpapier. Aber Vorsicht vor der Druckerschwärze!

Sparfüchse wickeln Geschenke in die Volksstimme ein.

Arztbesucher nehmen die Volksstimme mit in die Praxis und lösen im Wartezimmer die Kreuzworträtsel.

Rentner setzen sich im Winter auf die Volksstimme, weil die Parkbänke zu kalt sind.

Marktverkäufer wickeln darin Fisch ein.

Gärtner benutzen die Volksstimme als Unterlage zum Umtopfen oder Trocknen von Pilzen oder Blüten.

Partygäste zerreißen die Seiten in kleine Stücke und werfen umweltfreundliches Konfetti.

Umzugswillige wickeln Gläser und Geschirr darin ein, bevor alles in Kartons gelegt wird.

In den Regen gekommene Jogger knüllen das Papier und legen es in die nassen Schuhe zum Aufsaugen der Feuchtigkeit.

Natürlich kann man eine Volksstimme auch ganz einfach aufheben. Zeitungen werden mit ihrem zunehmenden Alter immer interessanter. Diverse Antiquariate bieten an, Menschen für gutes Geld Zeitungen von ihrem Geburts- oder Hochzeitstag zukommen zu lassen. Es gibt sie für fast jeden Tag aus jedem Jahr.

Irgendwann gewinnt die Zeitung wieder an Wert. Das Alter des Exemplars ist die Zukunft der gelesenen Zeitung. Die Volksstimme ist jetzt 120 Jahre alt geworden.

Und was machen Sie mit Ihrer Heimatzeitung?