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Flüchtlinge Die schwierige Frage nach dem Alter

Wie alt die jungen Flüchtlinge sind, bleibt in manchen Fällen ein Rätsel. Schwindel hat Konsequenzen.

08.10.2016, 23:01

Glüsig l Wann sein Geburtstag ist, das weiß er nicht so genau, sagt Samiullah Eskandari. Auf seiner Bewohner-Akte im Regal des Kinderheims steht deshalb unter seinem Namen das Geburtsdatum 1. 1. 1999. Vor knapp acht Monaten kam er ohne Papiere nach Deutschland. Sein Alter wurde vom Jugendamt durch eine sogenannte Inaugenscheinnahme, ein kurzes Gespräch, festgestellt. Nach einer Stunde glaubt das Amt dem Neuankömmling sein Alter oder nicht. Seitdem ist Eskandari in Deutschland 17 Jahre alt. Von Bremen wurde er nach Sachsen-Anhalt umverteilt. Seitdem lebt er mit 14 anderen Jungen in einem Jugendheim der Caritas für minderjährige, unbegleitete Flüchtlinge auf Gut Glüsig nahe Haldensleben.

Für sein Alter sieht Eskandari reif aus. Feine Fältchen bilden sich um seine Augen, wenn er spricht. Zweifel an Eskandaris Alter haben auch seine Betreuungspersonen. Ausschlaggebend für Ämter, Vormund und Betreuer ist aber, was schwarz auf weiß auf der vorläufigen Aufenthaltsgestattung steht.

Er ist vor den Taliban und dem Militärdienst aus Afghanistan geflohen, erzählt der ruhige junge Mann. Seine Brüder seien alle beim Militär, die Familie deswegen eine Zielscheibe für die Miliz. „Hier gehe ich in die Schule, Donnerstag und Sonnabend ist Fußball, fertig“, beschreibt er in einfachem Deutsch sein Leben auf dem abgelegenen Gutshof. Mit dem Fahrrad fahren die Flüchtlinge in zehn Minuten nach Haldensleben zur Schule. Ein Bus fährt nur ein paar Mal am Tag. Manchmal ist es ganz schön langweilig für die Bewohner hier, sagt Heimleiterin Antje Schulze.

Während des Interviews übersetzt der 11-jährige Afghane Mesut für Eskandari. In Afghanistan ist Geburtstag feiern nur etwas für kleine Kinder, erklärt er. Ob Afghanen trotzdem wissen, wie alt sie sind? „Natürlich“, ruft Mesut. Bei genauerem Hinsehen hat auch der müde aussehende Junge die feinen Fältchen um die Augen.

Oft sähen Kinder und Jugendliche nach den Strapazen der Flucht älter aus, sagt Monika Schwenke, Vorsitzende des Vereins Refugium, der die Vormundschaft für Eskandari übernommen hat. Trotzdem glaubt sie, dass zehn Prozent der jungen Flüchtlinge beim Alter schwindeln. „In der Not greift man dazu, dass zu tun, was möglich ist“, sagt sie. „Es wird bei der Alterschätzung nie eine Punktlandung geben.“

Medizinisch wird das Alter der meisten minderjährigen Flüchtlinge nicht festgestellt. So ist es auch bei Eskandari. Familiengerichte, die einen Vormund für die jungen Flüchtlinge stellen, können das eigentlich anordnen. Dann werden Handknochen geröntgt und die Entwicklung der Genitalien beurteilt. Doch: „Im Ergebnis würde das nicht weiterhelfen“, sagt Frank Gärtner, Pressesprecher am Amtsgericht Magdeburg. Das Alter eines Jugendlichen könne auch so nur auf einen Zeitraum von etwa vier Jahren eingegrenzt werden. Ein Fall, in dem das Gericht eine Prüfung angeordnet hat, ist ihm nicht bekannt. So bleibt es fast immer bei der ersten Altersschätzung. Auch bei einer Anerkennung als Flüchtling gilt sie weiter.

Inzwischen wird für viele Flüchtlinge in Deutschland nur eine zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis ausgestellt. Auch dann ist die Vorlage von Dokumenten fällig. Für viele junge Afghanen wird ein Alters-Trick dann zur Falle. Sind sie älter, als sie vorgegeben haben, droht ihnen eine Anzeige wegen Betrugs und hohe Geldstrafen. Dann müssen sie die Kosten der Rund-um-die-Uhr-Betreuung im Jugendheim zurückzahlen. Solche Verfahren sind allerdings langwierig. Rückzahlung wegen der finanziellen Situation vieler Flüchtlinge oft nicht realistisch.

Gut 600 von knapp 1200 unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen sind in Sachsen-Anhalt nach Auskunft des Innenministeriums aus Afghanistan. Zählt man alle Flüchtlinge im Bundesland, sind die Syrer vor den Afghanen die größte Gruppe. Gerade für Afghanen kann der Welpenschutz aber ein Vorteil sein. Geht ein junger Flüchtling in Deutschland vier Jahre oder länger in die Schule, hat er in Asylverfahren eine bessere Chance. Schulbesuch zählt als Integrationsleistung. Nur etwa 50 Prozent Asylbewerber aus Afghanistan bekommen zur Zeit in Deutschland einen positiven Asylbescheid. Entscheidungen werden auch bei Minderjährigen getroffen.

Samiullah Eskandari macht seit ein paar Monaten ein vorbereitendes Berufsschuljahr für ausländische Jugendliche, in dem er auch Deutsch lernt. Im kommenden Jahr könnte er seinen Hauptschulabschluss machen und danach eine Ausbildung beginnen. In Afghanistan musste er die Schule abbrechen, jetzt will er die Schule abschließen. „Einhunderprozent will ich das machen“, sagt er.

Ahmad Hamedi aus Syrien geht in dieselbe Berufsschulklasse wie Eskandari und wohnt ebenfalls auf Gut Glüsig. Seine Akte steht ein Regalbrett unter Eskandaris. Geburtsjahr 1999, davor ein Datum im Juni. „Man muss doch ein Papier vorzeigen, wenn nach Deutschland kommt“, sagt der 17-Jährige. Er hatte seinen Pass bei der Einreise noch, sagt er. Das war vor fünf Monaten. Jetzt lernt Hamedi fleißig Deutsch und will eine Lehre zum Koch machen. Bis dahin kocht er für seine Mitbewohner im Jugendheim. Zum muslimischen Opferfest hat er ein großes Blech gefüllte Weinblätter vorbereitet, sonst kocht er lieber Hähnchen mit Reis, Aubergine und Tomaten.

Als einer von drei Syrern fühlt er sich auf Gut Glüsig manchmal etwas allein. „Nicht immer sprechen die Jungen hier Deutsch“, sagt er und zuckt mit den Achseln. Außer ihm gibt es auf Gut Glüsig noch drei Pakistaner. Acht weitere junge Flüchtlinge sind aus Afghanistan. „Dass ich keine Familie hier habe, ist schwierig für mich“, sagt Hamedi. Auch für ihn ist er dankbar für die Möglichkeit, zur Schule zu gehen, weil das in Syrien für ihn nicht mehr möglich war. Seinen Asylantrag hat sein Vormund für Hamedi gestellt. Als Syrer hat er gute Chancen entweder als Flüchtling anerkannt zu werden oder zumindest ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Deutschland zu erhalten.

Werden falsche Angaben bei Alter gemacht, kann das auch späte Folgen haben. Im Zweifel kommt ein möglicher Schwindel erst heraus, wenn ein ehemaliger Flüchtling in Deutschland heiraten will oder seine Kinder hier regis­trieren will, sagt Udo Plaß vom Standesamt Magdeburg. Dann forscht der deutsche Staat im Ausland nach, wann und wo ein ausländischer Staatsangehöriger geboren ist. Alternativ muss der Flüchtling Dokumente wie Geburtsurkunde und Pass vorlegen.

In Syrien ist das in der Regel kein Problem, weil es auch dort Geburtenregister ähnlich dem des Einwohnermeldeamts gibt. „Afghanistan ist ein Land, bei dem Deutschland Zweifel hat, ob alle Urkunden ordnungsgemäß sind“, sagt Udo Plaß. „Die werden als Phantasiedokumente ausgestellt.“ Als „zweifelhaft“ bezeichnet auch Ulrich Koehler die Dokumente aus Afghanistan. Der Anwalt für Verwaltungsrecht verhandelt in Magdeburg auch Asylfälle. Trotzdem würden Ämter die Dokumente oft akzeptieren. „Weil sie auch nicht weiterwissen.“ Ein weiteres Hindernis: „Manchmal werden Kinder in Afghanistan erst mit sechs Jahren registriert“, sagt er. Denn der Weg zu Behörden ist oft weit. Das Geburtsdatum, das dann eingetragen wird, ist meist ebenfalls der 1.1.

Bei der Schätzung des Alters neigen die Jugendämter eigentlich zu älter“, sagt Ulrich Koehler. „Manche sind bei der Schätzung durchgerutscht. Zwischen 16 und 20 Jahren hat man diese Bandbreite.“

Eine bessere Lösung fällt ihm in der verfahrenen Situation nicht ein. „Im Zweifel für den Angeklagten, das gilt auch hier“, sagt er.