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30 Jahre Mauerfall Ein Helmstedter, der kam, um zu bleiben

Wie aus dem Helmstedter Autohändler Kurt Hegner ein Fabrikbesitzer und Förderer von Musik in Haldensleben wurde.

Von Janette Beck 10.09.2019, 01:01

Haldensleben l 30 Jahre nach dem Mauerfall ist immer noch die Rede vom „Jammer-Ossi“ und „Besser-Wessi“. Die Klischees, Vorurteile und Ungerechtigkeiten halten sich verdammt hartnäckig, bedauert Kurt Hegner. Er hat das Gefühl, dass die Unterschiede eher gepflegt werden, anstatt dafür zu sorgen, dass sie verschwinden und man dem Ideal der Einheit näher kommt.

Der 82-Jährige hat als jahrelanger Pendler zwischen West und Ost unermüdlich daran gearbeitet, Mauern einzureißen und mit Hilfe der Musik Verbindungen zu schaffen. Umso mehr schmerzt es ihn, was sich im vereinten Deutschland tut: „Ich weiß nicht warum, aber die Herzlichkeit, Hilfsbereitschaft und das Mitgefühl gehen abhanden. Das macht mir Angst und bereitet mir Magenschmerzen.“

Das Gespräch über Gott, die Welt und die eigene deutsch-deutsche Geschichte findet im urgemütlichen Goethesaal der alten Steingutfabrik statt, die Kurt Hegner sein Eigen nennt. Hier in Alt Haldenleben hat er im Schweiße seines Angesichts einen Ort der Begegnung geschaffen. Hier haben musisch begabte Kinder und Jugendliche der Region ein Zuhause und eine Bühne gefunden. Und hier veranstaltet der 2009 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrte Mäzen am 3. Oktober zum 25. Mal ein Konzert. Denn dieser Tag ist nach wie vor ein Grund zum Feiern, beteuert er: „Für mich ist und bleibt die deutsche Einheit ein Geschenk von unschätzbarem Wert.“

Das sagt der gelernte Autoschlosser aber nicht nur, weil er durch die Wende zu Geld gekommen ist. Bereits in den alten Bundesländern war er als Honda-Händler sehr erfolgreich unterwegs. Aber durch den Mauerfall hat sich ihm ohne sein Dazutun ein neuer Markt eröffnet. „Ich habe Autos verkauft wie verrückt und in Haldensleben, Gardelegen und Wolmirstedt Autohäuser eröffnet. Mein Umsatz hat sich dadurch verdoppelt“, macht der umtriebige Unternehmer kein Geheimnis daraus, dass er mit dem Osten ein gutes Geschäft gemacht hat.

Doch untypisch für die Branche, die nicht den besten Ruf hat, blieb es bei Kurt Hegner nicht beim Nehmen. Er beschäftigte in seinen Autohäusern im Osten „ausschließlich Leute von hier“. Und er bezahlte stets zehn Prozent über Tarif. „Ich habe nur gute Erfahrungen gemacht und wollte einfach den Menschen im Osten etwas zurückgeben.“

Doch um die ganze Geschichte, die sich für manchen lesen mag, wie das Märchen von einem Gutmenschen, dessen Herz der Musik gehört, glaubhaft zu machen, muss man tiefer gehen - zum Ursprung. Zurück bis in Kurt Hegners Kindheit: Geboren im ostpreußischen Elbląg (deutsch Elbing) wurde die Familie – Vater, Mutter und 10 Kinder – vertrieben. In Peine fand man eine neue Heimat. Alles schien sich zum Guten zu wenden, bis ein unverschuldeter Unfall alles veränderte. Der Neunjährige wurde von einem LKW überrollt. Er musste reanimiert werden, war gelähmt. 92 Tage lag er im Koma. 72 Narben am ganzen Körper zeugen von 52 Operationen.

Und doch wurde ausgerechnet im Krankenhaus der Grundstein seiner Liebe zur Musik gelegt: „Ich lag eineinhalb Jahre im Gipsbett.“ Im Zimmer neben ihm lag ein Junge mit einer Blutkrankheit. Er spielte Violine. „Oft wurde die Tür geöffnet, sodass alle an seinem wundervollen Spiel teilhaben konnten. Bis er starb.“ Damals habe der Bub, gläubig erzogen, ein Stoßgebet gen Himmel gesendet: „Lieber Gott: Wenn ich gesund werde, dann will ich Gutes tun und Kinder in der Musik fördern.“

Wider allen Prognosen wurde er gesund. Und bis heute nutzt er jede Gelegenheit, um sein Versprechen an Gott einzulösen. So stehen beispielsweise in den Musikschulen in Helmstedt, Haldensleben und Gardelegen von ihm gesponserte Flügel. Talente, wie die russlanddeutsche Pianistin Sofja Gülbadamova, haben in ihm „einen Förderer und Freund gefunden, der jederzeit mit Rat und Tat zur Stelle ist“. Die gepriesene Großherzigkeit erklärt Hegner mit dem prägenden Kindheitserlebnis: „Ich habe dadurch eine andere Einstellung zu allem bekommen. Und ich empfinde eine tiefe Dankbarkeit und Demut gegenüber den Dingen, die das Leben bereichern.“

Sein eigenes hat 1992 noch einmal eine entscheidende Wende genommen. Damals sah der von Helmstedt aus agierende Autohändler die ehemalige Keramikfabrik „Schmelzer & Gerike“ in Haldensleben zum ersten Mal. Und nein, es war keine Liebe auf den ersten Blick, als der damalige Landrat Eckhard Sigusch sie ihm vorstellte. Denn die im Jahre 1886 gegründete Fabrik war eine riesige Ruine. „Ich sagte zu ihm: Du bist wohl total verrückt, was soll ich denn mit dem Schrotthaufen?“ Eine Woche überlegte Kurt Hegner, der schon als Kind allen mit seiner Vision auf die Nerven ging, einmal eine Fabrik zu besitzen: „Die Welt gehört den Verrückten. Und ich wollte schon immer etwas machen, was eigentlich unmöglich ist.“

Mit der Unterschrift unter dem Vertrag mit der Treuhand wurde er von heute auf morgen „ein steinreicher Fabrikbesitzer – aber nur im übertragenen Sinne“, sagt Kurt Hegner verschmitzt, denn sein ganzes Vermögen – es sollen etwa 2 Millionen Euro sein – hat er in sein Lebenswerk gesteckt.

Was in vielen Augen – übrigens auch in denen seiner Frau Margret – eine unlösbare Lebensaufgabe darstellte, war für ihn eine Herausforderung. Und dieser stellte er sich seit 25 Jahren mit unendlich viel Liebe, Geduld und Hände-Arbeit. Nach und nach, ganz ohne Fördermittel, hauchte der Visionär dem schlummernden Fabrik-Riesen Leben ein. Bis 2011, als er in den Ruhestand ging und ein „echter Haldensleber“ wurde, legte er jeden Abend nach der Arbeit und an den Wochenenden Hand an und schuf ein Kleinod der Kunst und Kultur – samt Goethesaal, Kaminzimmer und Mozart-Café. Erst viel später, da pulsierte im Industrie-Denkmal schon das kulturelle Leben, kamen die eigenen Wohnräume dran.

Der Autohändler aus dem Westen, die Musik, die alte Fabrik und Haldensleben – in all den Jahren ist zusammengewachsen, was zusammengehört, sagt er in Anlehnung an die legendären Worte des Ex-Bundeskanzlers Willy Brandt zum Mauerfall 1989. „Es ist schade, dass das mit Ost und West bis jetzt nicht so geklappt hat.“ Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Er habe mal gelesen, dass nach Meinung von Naturwissenschaftlern alle evolutionären Veränderungen 75 Jahre – also drei Generationen – benötigen. „Alles braucht eben seine Zeit. Und Taten.“ Wer weiß das besser als Kurt Hegner.

Mehr Infos und Artikel zum Mauerfall gibt es in unserem Dossier.