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Weltkrieg Familienausflug an die Front

Vor drei Jahren wurde im Harzvorland ein in Vergessenheit geratenes Grabensystem aus dem Ersten Weltkrieg entdeckt.

05.04.2016, 23:01

Halberstadt l Die feuchte Kälte kriecht einem sofort in die Knochen. Die Nase läuft, die Finger werden langsam steif. Mit moderner Winterjacke sind die Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt ein paar Stunden auszuhalten. Aber in einer Soldatenuniform von vor 100 Jahren wochenlang in einem solchen Graben ausharren? Unvorstellbar. An der Meding-Schanze nahe Halberstadt kann man ein wenig erahnen, wie brutal und ungemütlich das Geschehen an der Front im Ersten Weltkrieg gewesen sein muss.

In den Sommermonaten des Jahres 1914 hatten sich die Armeen in Europa auf einen kurzen Krieg vorbereitet. Doch schon nach wenigen Wochen war der deutsche Vormarsch in Frankreich an der Marne zum Erliegen gekommen. An der Front im Westen begann ein jahrelanger Stellungskrieg – ein in Deutschland bis dato unbekanntes Phänomen. Nicht auf dem Feld, sondern verschanzt in Gräben standen sich die Soldaten gegenüber. Egal, ob in Verdun, an der Somme oder in den Flandernschlachten – das Ergebnis der Kämpfe waren meist hohe Verluste bei nur geringfügigen Geländegewinnen.

In der Heimat wurde der Krieg dennoch glorifiziert. Der Glaube an den Sieg Deutschlands sollte erhalten, die Kampfmoral in der Bevölkerung gestärkt werden – auch, um neue Rekruten anzuwerben. Da kam Werner Otto Ludwig von Meding eine Idee. Der Offizier aus Merseburg, der 1915 an der Front verwundet worden war, war in Halberstadt für die Ausbildung eines Infanterie-Regiments zuständig. Um der Bevölkerung den neuartigen Stellungskampf nahezubringen, wurde auf seine Initiative im Sommer 1916 ein 400 Meter langer Übungs- und Schaugraben errichtet.

Gegen ein kleines Eintrittsgeld konnten Zivilpersonen in den Halberstädter Bergen das Frontgeschehen nachempfinden. Der Verkauf von Postkarten mit der Meding-Schanze sollte Geld in die Kassen für Kriegsveteranen und Witwen spülen. Auch ein Obelisk wurde errichtet, die patriotischen Sprüche „Viel Feind viel Ehr“ und „Durch Kampf zum Sieg“ sind noch heute darauf zu erkennen.

Ein erfolgreiches Modell? Ja, sagt Roswitha Hutfilz. „Die Gegend war damals ein beliebtes Ausflugsziel. Man muss sich das so vorstellen, dass die Familien am Sonntagnachmittag loszogen und in den Halberstädter Bergen spazieren gingen. Es gab hier viele Wanderwege und Ausflugsgaststätten. Da haben sich wahrscheinlich auch viele Menschen die Meding-Schanze angesehen“, sagt sie. Roswitha Hutfilz ist Mitglied im Verein Halberstädter Berge, der sich heute um die Meding-Schanze kümmert. Dass die Grabenanlage überhaupt wieder zugänglich ist, ist auch ihr Verdienst.

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges (1945) war die Meding-Schanze in Vergessenheit geraten. Die Ausflugsgaststätten verschwanden, die Rote Armee war bis 1993 nur wenige hundert Meter entfernt stationiert. Die Gegend sollte von den Halberstädtern gemieden werden. Nur wenige Menschen, die als Kinder in den Gräben gespielt hatten, wussten noch, dass die Anlage existierte. In den 1970er Jahren wurde die Meding-Schanze durch den Bau eines Forstweges geschnitten und teilweise überlagert (siehe Karte).

Roswitha Hutfilz stieß eher zufällig darauf. Sie arbeitet in der Halberstädter Stadtverwaltung in der Abteilung Stadtgrün. Als sie die Stelle 2010 von ihrem Vorgänger übernahm, erwähnte dieser einmal beiläufig, dass es in den Spiegelsbergen noch eine alte Grabenanlage aus Kriegszeiten gebe. „Das fand ich interessant, davon hatte ich noch nie gehört“, sagt sie. Roswitha Hutfilz fing an, sich das Grabensystem näher anzusehen – Bedeutung und Wert konnte sie damals jedoch noch nicht abschätzen.

Als knapp drei Jahre später Historiker in den Halberstädter Bergen unterwegs waren, bat sie diese, sich die völlig zugewilderte Meding-Schanze anzusehen. „Denen war sofort klar: Das hier ist eine Sensation“, sagt Roswitha Hutfilz. Nach bisherigen Recherchen ist die Meding-Schanze der einzig erhaltene Nachbau eines Grabensystems auf deutschem Boden.

Mittels Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde die Anlage wieder freigelegt, ein Unterstand wurde originalgetreu nachgebaut. Seit Juli 2014 ist die Meding-Schanze, die einst sowohl in die Erde als auch in den anstehenden Felsen eingegraben worden war, offiziell ein Baudenkmal.

Bei archäologischen Untersuchungen wurden hunderte Funde gesichert: Geschosshülsen, Münzen, Erkennungsmarken, ein Uniformknopf, ein Silber-Medaillon und diverse Anstecker. „Die Meding-Schanze wurde sowohl für Übungszwecke als auch als Schaugraben für Zivilpersonen genutzt“, sagt Oliver Schlegel, Archäologe beim Landkreis Harz. Ähnliche Anlagen müssten zwischen 1915 und 1918 an zahlreichen Garnisonsstandorten in Deutschland existiert haben, sagt Schlegel. „Aber die sind spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg alle verschwunden, wurden vielleicht auch überbaut. Es ist außergewöhnlich, dass die Meding-Schanze so gut erhalten ist“, erklärt der Archäologe.

Eins zu eins wurde das Leben an der Front in der Heimat aber nicht abgebildet. „Die Grabensohle der Meding-Schanze war gepflastert, die Grabenböschung wurde in Stein gefasst – der heimischen Bevölkerung wurde eher ein komfortabler Idealzustand vermittelt, nicht die realen Gefechtsbedingungen“, sagt Schlegel. An der Front wateten die Soldaten oft durch Schlamm. Die jungen Männer in der Heimat sollten glauben, dass ein Kriegseinsatz mühelos und unproblematisch ist.

In diesem Jahr jährt sich nicht nur der Bau der Meding-Schanze zum 100. Mal, sondern auch die Schlacht an der Somme – mit mehr als einer Million getöteten, verwundeten und vermissten Soldaten war sie die verlustreichste Schlacht des Ersten Weltkriegs. An dem Fluss waren auch Soldaten des Halberstädter Regiments stationiert, sie standen dort unter anderem Schotten gegenüber.

Vor zwei Jahren sind nahe der schottischen Hauptstadt Edinburgh ebenfalls Reste einer alten Grabenanlage gefunden worden. Seitdem bemüht sich Roswitha Hutfilz, Kontakt nach Großbritannien zu knüpfen. Ihr Wunsch ist es, dass sich einmal ein Deutscher und ein Brite an der Meding-Schanze die Hand reichen. „Das wäre ein tolles Zeichen der Völkerverständigung“, sagt sie. Spätestens 2018 soll es soweit sein – 100 Jahre nach dem Waffenstillstand.