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Fernsehprogramm Weniger ist mehr

Unser Gastautor aus London berichtet über sein neues Leben in Sachsen-Anhalt und hinterfragt die TV-Sendungen im deutschen Fernsehen.

Von Paul Kilbey 24.04.2018, 10:34

Magdeburg l Normalerweise urteile ich nicht über Sachen, denen ich noch keine Chance gegeben habe. Das Kino in der Mitte eines Films verlassen? Ist genauso wenig mein Ding, wie Essen im Restaurant zurückzugeben. Denn ich finde es fairer zu schauen, ob sich meine Meinung noch ändert.

Auch bilde ich mir ungern ein Urteil über Sachen, von denen ich noch nicht genug weiß. Vielleicht bekommt man vom Fallschirmspringen einen Kick und bestimmt hat Heavy-Metal-Musik seine Reize. „Don’t knock it until you’ve tried it” (Deutsch sinngemäß: Probieren geht über Studieren) sagen wir Briten.

Das war auch mein Motto - zumindest, bis ich nach Deutschland kam. Denn leider läuft hier etwas gewaltig schief mit dem Fernsehprogramm. Seit ich hier bin, habe ich noch keine einzige TV-Show bis zum Ende geschaut. Außer natürlich Tatort. Aber das zählt nicht, da habe ich keine Wahl. Denn wenn ich dieses deutsche Kulturgut ablehnen würde, müsste ich nach dem Brexit sicher als einer der ersten Briten das Land verlassen.

Doch ansonsten habe ich deutschem Fernsehen nicht wirklich eine Chance gegeben. Das hat einen triftigen Grund. Denn Fernsehsendungen sind hier einfach viel zu lang. Die Briten haben eher das Motto „weniger ist mehr“. Sendungen laufen hier eine halbe – allerhöchstens eine Stunde. Wenn die Show auf BBC läuft, ist die tatsächliche Sendezeit etwas länger, da sie nicht durch Werbeblöcke unterbrochen wird.

Und hier bin ich gleich beim nächsten Problem: In Deutschland kommt man durch die endlose Werbeclips, die die eh schon diffuse Sendung unterbrechen, komplett raus.

Doch dann kam „Start Up“. Eine Sendung, die mich an die britische Show „The Apprentice“ erinnerte. Eine Gruppe junger Gründer treten gegeneinander an. Nachdem sie zahlreiche Aufgaben erfüllt haben, bewertet eine Jury, die aus reichen, erfolgreichen Business-Leuten besteht, welcher Teilnehmer es am meisten verdient hat, zunächst öffentlich ins Lächerliche gezogen und dann nach Hause geschickt zu werden. „Was kann da schon schiefgehen?“, fragte ich mich.

Ganz einfach: Indem man die erste Folge einfach drei Stunden laufen lässt. Drei Stunden! Das ist doppelt so lang wie ein Spielfilm. Die Zeit kann ich prima nutzen, um mir ernsthafte Gedanken über den Sinn der Show zu machen. Habe ich gerade Spaß oder vergeude ich meine Zeit? Finde ich es richtig, dass in der Sendung der Eindruck erweckt wird, dass es für einen Gründer einzig darum gehen sollte, so viel Profit wie möglich zu machen? Sollten sie nicht versuchen, Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln, die die Welt wirklich braucht?

Wenigstens, probierte ich mir einzureden, geht die Show nicht vier Stunden – wie „Let’s Dance“. Denn das finde ich den reinen Wahnsinn. Ich habe schon kürzere Wagner-Opern gesehen. Schneiden die Macher dieser Sendungen das Material überhaupt? Oder zeigen sie einfach alles, was sie aufgenommen haben?

In der britischen Version „The Apprentice“ habe ich hingegen immer alle Probleme, die ich eigentlich mit der Sendung habe, vergessen. Ich war zu gefesselt von der Frage, wer die meisten Hot Dogs oder Bus-Touren verkaufen wird.

Zum Nachdenken blieb mir einfach keine Zeit. Anders in Deutschland. Wenn ich fertig bin, über den Inhalt der Sendung zu reflektieren, habe ich sogar noch Zeit, über mein eigenes Leben nachzudenken. Warum schaue ich das überhaupt an? Sollte ich stattdessen nicht eher Goethe lesen?

Bei der ganzen Grübelei habe ich doch einen Pluspunkt gefunden. Deutsches Fernsehen erinnert mich immer wieder daran, dass ich meine Freizeit sinnvoller gestalten sollte. Ich verbringe schon den ganzen Arbeitstag damit, auf einen Bildschirm zu starren - sollte ich am Abend wirklich das Gleiche machen?

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