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Notruf Fortschritt, aber keine Innovation

Landkreis Stendal bietet Notruf-SMS für Menschen mit Behinderung an. Eine Bundesweite App soll 2020 eingeführt werden.

09.10.2019, 23:01

Magdeburg l Sie liest sich erst einmal gut, die Pressemitteilung des Landkreises Stendal. Ab sofort können dort Menschen mit Sprach- und Hörbehinderung eine Notruf-SMS absetzen. Man sei der erste Landkreis in Sachsen-Anhalt, der diesen Dienst anbiete.

Und es stimmt: Bisher müssen Menschen mit Behinderung im Notfall ein Telefax senden. Für sehbehinderte und blinde Menschen gibt es auf jeder Telefontastatur eine tastbare Markierung auf der Ziffer 5, die zur Orientierung dient. Die Notruf-SMS ist also durchaus ein Fortschritt. „Es ist ein Serviceangebot“, betont Matthias Wollenheit, Leiter der Rettungsleitstelle Altmark. Die SMS sei keine Notrufnummer gemäß dem Telekommunikationsgesetz. Bei zeitgleichen SMS-Versendungen könne es zudem zu Verzögerungen kommen. Doch nicht nur das. Die SMS besitzt als Kommunikationsmittel weitere Schwächen. So werden keine Standortdaten automatisch übermittelt, Gleiches gilt für personenbezogene Daten.

Viel wichtiger aber: Eine bundesweite Lösung steht bevor. „Alle Bundesländer haben gemeinsam vereinbart, eine Notruf-App für Smartphones und Tablets zu entwickeln“, sagte Danilo Weiser, Sprecher des Innenministeriums. Die App werde sowohl in den Notrufabfragestellen für die 110 (Polizei) als auch für die 112 (Feuerwehr, Rettungsdienst) spätestens 2021 eingesetzt werden.

Warum dann jetzt noch einen SMS-Notruf anbieten? „Weil die App noch nicht da ist und jederzeit etwas passieren kann“, sagt Wollenheit. Die App sei in das Funk- und Telefonabfragesystem ohne größeren Kostenaufwand integriert worden. Auch Jürgen Hildebrand, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes Sachsen-Anhalt, begrüßt den Vorstoß in der Altmark. Vielmehr noch hofft er allerdings, dass die seit Jahren geplante Notruf-App im kommenden Jahr endlich eingeführt wird. „Natürlich kommt so ein Notruf von Menschen mit Sprach- und Hörbehinderung nicht oft vor, deshalb wurde bisher auch nicht ausreichend dafür getan“, sagte Hildebrand. „Aber jeder Mensch, und wenn es nur einer ist, sollte die Möglichkeit haben, im Notfall schnell Hilfe zu erhalten.“

In Sachsen-Anhalt leben rund 2000 Menschen mit Sprach- oder Hörbehinderung. Da keine Verpflichtung besteht, sich bei einer Beratungsstelle zu melden, dürfte die Dunkelziffer höher ausfallen. Pro Jahr gebe es laut Wollenheit in der Altmark rund zehn Fax-Notrufe von Menschen mit Behinderungen.

Bereits 2013 hatte sich eine vom Bundeswirtschaftsministerium eingesetzt nationale Expertengruppe „Notrufe“ (EGN) mit einer Notruf-App beschäftigt. Auf den Markt kam sie jedoch nie. „Ich verstehe das nicht“, sagt Sabine Felsche von der Beratungsstelle für Hörbehinderte in Magdeburg. „In fast jedem Supermarkt kann man per App bezahlen, aber die Notruf-App gibt es immer noch nicht.“

Dabei wird die einfache Nutzung eines Notrufsystems für Menschen mit Behinderung sowohl in der UN-Behindertenrechtskonvention als auch im Grundgesetz als unabdingbar erklärt. „Trotz des zentralen Grundsatzes ‚Nichts über uns ohne uns!‘ wird unser Anspruch auf Partizipation einfach ignoriert“, kritisierte Daniel Büter vom Deutschen Gehörlosen-Bund.

Zuletzt hatte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundesfraktion Die Linke von einem App-Prototyp, entwickelt von der Firma bevuta IT GmbH, gesprochen. Gefördert wurde das Projekt mit einer Laufzeit von Oktober 2017 bis Juli 2018 mit rund 200.000 Euro. Büter und andere Freiwillige hätten es gern unterstützt. „Uns sind bis jetzt allerdings weder die Abschlussergebnisse noch die Funktionen der Notruf-App bekannt.“ Zwar begrüße man die nun geplante Einführung der Notruf-App „Salus“. „Uns ist es jedoch unbegreiflich, dass die Bundesregierung es nicht für notwendig erachtet, Telefonvermittlungsdienste mit Gebärdensprach- und Schriftdolmetscher und eine staatliche Notruf-App in das Gesetz aufzunehmen.“ Bisher wird dieser Dienst auf freiwilliger Basis angeboten.