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Interview Gallert: „Was muss, das muss“

Linke-Spitzenkandidat Wulf Gallert erklärt im Volksstimme-Interview, warum er gegen Obergrenzen und Zäune ist.

Von Jens Schmidt 16.01.2016, 00:01

Volksstimme: Herr Gallert, Ihre Bundestagsfraktions-chefin Sahra Wagenknecht hat nach den Ereignissen in Köln gesagt: Wer Gastrecht missbraucht hat, hat Gastrecht verwirkt. Hat Sie Recht?

Wulf Gallert: Nein. Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber sind ja keine Gäste, die man hinauswirft, weil sie sich schlecht benommen haben. So dürfen wir mit ihnen nicht umgehen. Asylrecht ist ein Grundrecht und kein Ersatzstrafrecht. Außerdem sollte man sich in dieser aufgeheizten Lage genau überlegen, welchen Ton man anschlägt. Auch deshalb habe ich mich sehr über ihren Satz geärgert.

Aber unser Ausländerrecht kennt die Regelung, dass straffällig Gewordene des Landes verwiesen können. Ist das falsch?

Die jetzt geltende Regelung kann man vielleicht gerade noch mit der Flüchtlingskonvention in Übereinklang bringen. Aber die geplante Verschärfung…

…eine Ausweisung soll künftig bereits ab einer Bewährungsstrafe möglich sein ...

... halte ich für eine Scheindebatte. Denn: Wohin wollen wir denn die Betroffenen schicken? Nach Syrien? Das wäre der sichere Tod und geht also nicht. Und nordafrikanische Staaten wie Marokko nehmen abgeschobene Asylbewerber meistens nicht zurück. Bleibt die Abschiebung in ein Drittland und die Möglichkeit, nach Deutschland wieder einzureisen und möglicherweise wieder Straftaten zu begehen. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Strafverfolgung, mehr Polizisten und Richter.

Die SPD fordert eine Residenzpflicht für anerkannte Flüchtlinge, damit nicht alle in die Großstädte ziehen.

Auch dieser Vorschlag gehört zu dieser völlig konfusen Debatte. Ob Obergrenze, verschärftes Asylrecht oder diese Residenzpflicht: Alle wissen doch, dass das nicht umgesetzt werden kann.

Warum funktioniert eine Residenzpflicht nicht?

Die Menschen gehen in die Städte, weil sie dort besser Arbeit finden oder sie dort zu ihren Landsleuten können. Wenn wir sie gegen ihren Willen festhalten, schaffen wir mehr Probleme als wir lösen. Wir müssen die Situation bei uns so gestalten, dass die Leute hier bleiben. Auch Obergrenzen funktionieren nicht.

Das heißt: Deutschland muss alle aufnehmen.

Dass uns das vor eine gewaltige Herausforderung stellt, will ich nicht bestreiten. Aber was wollen wird denn mit Menschen machen, die trotz Obergrenze zu uns kommen? Im Mittelmeer ertrinken lassen? Eine Grenze mit Mauer und Stacheldraht aufbauen? Das ist kein Modell für Deutschland. So lange mir niemand sagt, wie eine Obergrenze menschenwürdig funktionieren soll, so lange lehne ich solch eine Debatte ab.

Aber offenbar erwarten die Deutschen jetzt eine Begrenzung. Wer für eine Obergrenze plädiert, bekommt mehrheitlich Beifall – nach der Umsetzung fragt erstmal keiner.

Das ist so. Aber wir werden unsere Position dennoch nicht ändern. Denn jede Flucht ist ein extremes Schicksal. Haseloff erweckt den Eindruck, wir könnten uns wie bei einer Onlinebestellung 12 000 Menschen pro Jahr aussuchen. Das funktioniert nicht. Ich wünsche mir auch nicht, dass sich massenhaft Menschen auf den Weg nach Deutschland machen müssen. Damit das aufhört, müssen wir die Lage in den Flüchtlingslagern rund um Syrien deutlich verbessern. Und wir müssen den Syrern in ihrem Land wieder eine Perspektive geben. Das Flüchtlingshilfswerk der UN braucht 7 bis 8 Milliarden Euro pro Jahr, die EU steht mit 2,2 Milliarden Euro in der Kreide, deswegen wurde in den Lagern das Essen knapp. Das war einer der Gründe für die Massenflucht. Einen Teil der Fluchtursachen haben wir uns selbst organisiert. Ich zitiere Entwicklungshilfeminister Müller von der CSU: ‚Wir haben unseren Wohlstand auf dem Rücken der Entwicklungsländer aufgebaut. Das wird nicht mehr lange gut gehen.‘“

Ist nach Köln die Stimmung gekippt?

Die Menschen sind deutlich stärker verunsichert, die Stimmung ist aggressiver geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob die Ereignisse von Köln wirklich die Ursache dafür sind. Seit Tagen wird jedenfalls fast über nichts anderes berichtet – in Leipzig-Connewitz hat ein Neonazi-Stoßtrupp einen Straßenzug in Schutt und Asche gelegt, davon hört man nicht viel. Ja, tatsächlich ist das Land gespalten. Es geht um die Frage, wo wollen wir hin? Schotten wir uns ab oder bleiben wir ein offenes Land? Ich bin gegen Abschottung.

Viele sorgen sich, dass wir uns überfordern. Haben Sie Verständnis dafür?

Emotional kann ich vieles nachvollziehen. Aber es wäre schlecht, Lösungen anzubieten, die die Lage verschlimmern. Jetzt setzen Bundes- und Landesregierung verstärkt auf Abschiebung und Abschreckung. Meine Befürchtung ist, dass sich die Lage so noch zuspitzt.

Wieso?

Wenn 1000 und mehr Menschen monatelang in einer Gemeinschaftsunterkunft leben, entwickeln sich Aggressionspotenziale. Das würde uns auch so ergehen. Wenn Menschen dann zudem keine Aussicht auf Besserung ihrer Lage haben, wenn sie kein Geld mehr bekommen sondern nur noch Sachleistungen, wenn sie ihre Familie nicht nachholen dürfen, dann kann die Lage noch viel brenzliger werden. Wenn Menschen aber Rückendeckung spüren, trägt das zur Entspannung der Situation bei. Das wäre der viel bessere Weg - für die Flüchtlinge wie auch für die Einheimischen.

Das heißt: Deutschland kann und soll unbegrenzt viele Menschen aufnehmen?

Unbegrenzt nicht. Aber wenn angenommen so viele ankämen wie 2015, dann wäre das dennoch zu bewältigen. Nach den Erfahrungen des letzten Jahres bleiben in Sachsen-Anhalt unter dem Strich etwa 25 000 Flüchtlinge hier. Das Land hat seit 1990 fast jedes Jahr etwa 30 000 Menschen verloren. Wir könnten in diesem Jahr ausreichend viele Wohnungen reaktivieren. Im nächsten Jahr auch. Dann muss die Situation international so gestaltet sein, dass die großen Fluchtursachen überwunden sind. Unser Vorteil gegenüber den westlichen Bundesländern ist es, dass wir hier genügend leeren Wohnraum haben. Natürlich brauchen wir ein besseres Registrierungsverfahren. Wir sind nicht blind. Wenn der Attentäter von Paris mit 7 verschiedenen Identitäten durchkam, dann muss da mehr Ordnung rein.

Erwarten Sie eine Schließung der deutschen Grenzen?

Es ist möglich, dass die Position der Abschottung mehrheitsfähig wird. Das wäre aber fatal. Das würde nicht nur das Klima nach außen sondern auch in unserem Land verändern. Siehe Ungarn und Polen, wo die demokratischen Werte infrage gestellt sind.

Wie schätzen Sie die Stimmung in der Wählerschaft der Linken ein?

Ich schließe nicht aus, dass wir vielleicht Wähler verlieren. Dennoch müssen wir bei unserer Position eines offenen Landes bleiben. Andernfalls verlören wir unsere Identität. Auf längere Sicht wird sich unsere klare Haltung auszahlen. Da bin ich mir sicher. Daher kämpfe ich weiter für eine rot-rot-grüne Mehrheit, die eine andere Antwort auf die Probleme gibt als CDU und AfD.

Gerade die sozial Schwachen sehen in den Flüchtlingen eine neue Konkurrenz.

Das stimmt, aber meine Antwort heißt nicht Abschottung. Ich sage: Wir müssen Sicherungsseile einziehen. Die heißen: Mindestlohn ohne Ausnahmen auch für Flüchtlinge, Tarifbindung und betriebliche Mitbestimmung. Daher war Haseloffs Vorschlag, den Mindestlohn von 8,50 Euro für Flüchtlinge auszusetzen, ein Spiel mit dem Feuer. Wenn ein Syrer den Job auch für 5 Euro macht, dann müssen Einheimische Angst habe, ihren Arbeitsplatz zu verlieren.

Gerade älteren Ostdeutschen wird attestiert, mehr Probleme mit fremden Kulturen zu haben. Auch unter ihnen sind viele Ihrer Wähler.

Zu unseren Wählern gehören aber Ältere und Jüngere, und auch die Älteren haben inzwischen viel Erfahrung nach der Wende gesammelt.

Schätzen Sie Ihre Chance, Ministerpräsident zu werden, immer noch so hoch ein wie vor einigen Monaten?

Die Chance für Rot-Rot-Grün ist nach wie vor da.

Aber eine Wechselstimmung scheint es nicht zu geben.

Wir hatten auch in Thüringen keine ausgeprägte Wechselstimmung und stellen dennoch dort den Ministerpräsidenten.

Herr Gallert, Sie galten lange als Realpolitiker. In der Flüchtlingsfrage wirken sie auf viele wie ein Idealist.

Ich überlege sehr genau, welche Vorschläge praktisch umsetzbar sind, während andere wie Reiner Haseloff mit seiner Obergrenze von 12 000 wie Traumtänzer wirken. Ich weiß, dass das alles nicht einfach ist. Ich habe mir nicht gewünscht, dass sich eine Million Menschen auf den Weg nach Deutschland machen. Ich habe auch kein idealisiertes Bild von Flüchtlingen. Und wenn unser Landrat in Wittenberg sagt, er sei auch mal froh, wenn zwei Wochen lang kein Bus ankommt, dann kann ich ihn gut verstehen. Aber ich sage: Was muss, das muss. Wenn wir diesen Menschen keine Perspektive geben, dann bekommen wir gewaltige Probleme, da dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Und: Ich weiß, was es bedeutet, wenn ein Land die Grenzen dicht macht. Diese Vorstellung macht mir Angst. Deswegen bin ich an dieser Stelle so grundsätzlich.