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30 Jahre Mauerfall Chefkoch in zwei Welten

Chefkoch Wilfried Kluge hatte 43 Jahre in der Magdeburger Otto-von-Guericke-Straße die Kochmütze auf.

11.10.2019, 23:01

Magdeburg l An die Festveranstaltung anlässlich des 40. Jahrestages der DDR-Gründung im Palast der Republik kann sich Wilfried Kluge ganz genau erinnern. „Die Chefköche von rund 30 Interhotels waren am 7. Oktober 1989 nach Berlin beordert worden, um für die DDR-Führung und ihre Staatsgäste ein Büfett aufzufahren.“ Jeder sollte ein sogenanntes Schaustück auf die Tafel bringen. Der Magdeburger Chefkoch steuerte gefüllten Zander bei.

„Ich stand in der Küche, da kam mein Kollege Hennig Steller vom Interhotel Halle rein und sagte: Guckt mal aus dem Fenster. Was ich dann sah, waren viele Menschen, die vom Roten Rathaus Richtung Palast marschierten. Und bei uns sind die Sicherheitskräfte im Quadrat gesprungen.“

Als er die Menschenmassen gesehen habe, habe er gewusst: Das ist der Anfang vom Ende der DDR. „Was das für die Interhotel-Kette bedeutet, daran habe ich in jenem Augenblick nicht gedacht. Das kam erst später.“

Und das sei nach der Maueröffnung und noch mehr nach der Währungsreform am 1. Juli 1990 gewesen. „Die Gäste blieben weg. Dort, wo noch Wochen zuvor die Magdeburger Schlange standen, um einen Platz im Restaurant ,Moskwa‘ oder in der ,Pilsner Quelle‘ zu bekommen waren die Tische leer.“ Da habe es auch nichts genutzt, dass sich hin und wieder Politiker der Bundesrepublik, die auf Wahlkampftour waren im „Inter“ übernachteten. „Nach und nach schlossen wir die Gastronomie. Erst die ,Pilsner Quelle‘, dann das Café Wien.“

Die großen Ketten hätten sich um den inzwischen Treuhand-Hotels gerissen, so der 64-Jährige. „Aber alle wollten nur die Luxushotels haben. Doch die Treuhand hat gesagt: Wer solch Haus haben möchte, muss noch ein Hotel der niedrigeren Kategorie dazu nehmen.“ So seien das Magdeburger Interhotel und das in Halle 1992 bei der „Maritim“-Kette gelandet.

Wilfried Kluge war bis er am 1. Oktober 2018 in Rente ging, Koch mit Leib und Seele. „Irgendwie hatte ich ja auch gar keine andere Wahl“, schmunzelt er an einem Stehtisch im Foyer des Hotels. „In meiner Familie gibt es fünf Köche.“

Reingeschnuppert ins Gastronomiegewerbe habe er schon als Kind. „Meine Eltern hatten die Dorfkneipe ,Alter Fritz‘ in Körbelitz. Wir hatten jeden Tag deftigen Mittagstisch, den meine Mutter gekocht hat. Und den LPG-Bauern, die bi uns eigekehrt sind hat es geschmeckt.“

Ein Jahr, bevor er 1971 seine Kochlehre im Interhotel begonnen habe, sei seine Schwester schon dort gewesen. Was er während der nächsten 21 Jahre im Haus an der Otto-von-Guericke-Straße erlebt hat, könnte ein Buch füllen.

Da waren zum Beispiel die Staatsjagten im Bezirk Magdeburg, zu denen Erich Honecker einlud. „Das Hotel war leer“ erzählt Kluge. „Und für die Feier am Abend des zweiten Tages wurde das ,Café Wien‘ zum Wald umgebaut. Nadelbäume und weidmännische Dekos wurden herangeschafft. Die Genossen dachten, sie stehen im Wald.“ Auch das Sondergeschirr sei aus den Schränken geholt worden. „Schweres Silberbesteck und Besteck mit Horngriffen. Dazu die Gläser mit dickem Goldrand und die Teller mit Jagdhornmuster.“

„Die Küche musste dem Protokoll eine Speisen-Liste vorlegen: Vorspeisen, Suppen, Hauptgerichte und Desserts. Daraus wurde das Menü zusammengestellt. Verboten waren Eis, wegen möglicher Keimbelastung, und Nüsse – Letzteres aus Rücksichtnahme auf die Gebissträger.“ Habe es Cremes gegeben, durften nicht mehr als 20 Portionen auf einmal geschlagen werden.

„Stand die Speisenfolge fest, wurde jede Komponente vom Bezirkshygiene-Institut überprüft“, so der Ex-Chefkoch. „Die Lieferanten unserer Zutaten mussten aufgelistet werden und beim Bäcker, der uns zulieferte stand ein Hygiene-Mitarbeiter am Backtrog.“ Am Tage des Banketts schauten in der Hotelküche ein MfS-Mitarbeiter und einer vom Hygieneinstitut in die Kochtöpfe.

Die Zeit zwischen dem Ende des „Inter“ und der Einweihung des „Maritim“ ist Kluge auch noch im Gedächtnis, als sei es erst gestern gewesen. „Nachdem die Kette unser Haus übernommen hatte, wurde schnell klar, dass es den künftigen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden könnte. So gab es keine Garagen für die Gäste. Eine Sanierung, die nötig wäre, hätte sich nicht gerechnet. Also Abriss und Neubau.“ Am 31. Oktober 1993 rückten die Kräne an.“

Kurz zuvor hatte es in der „Juanita“-Bar einen Mitarbeiterempfang gegeben. „Wir haben alle unsere Kündigung bekommen. Gleichzeitig einen Arbeitsvertrag für das ,Maritim‘.“ Ein Teil des Hotelpersonals habe allerdings schon vorher gekündigt und sei weggegangen – viele in die alten Bundesländer.

Kluge spricht mit Achtung vom Vorgehen des Konzerns: „Für die Zeit des Abrisses und Neubaus haben wir Weihnachts- und Urlaubsgeld bekommen und es gab auch Angebote, während der Übergangszeit in anderen Hotels zu arbeiten.“

In Travemünde sei ein Küchenchef gesucht worden, erinnert sich der 64-Jährige. „Ich habe mir das Haus angesehen und festgestellt, dass es schlimmer aussah, als bei uns. Außerdem waren mir die 300 Kilometer mit der damit verbundenen Wochenendehe zu weit.“ Aber ganz zu Hause bleiben, wollte Kluge auch nicht. „Ich habe dann übergangsweise am 2. Januar 1994 in den ,Drei Linden‘ Gommern gearbeitet, bis es im neuen ,Maritim‘ Magdeburg wieder losging.“

Unterschiede zwischen der Arbeit zu DDR-Zeiten und danach habe es eine Unmenge gegeben, sagt er. „Die Kollegialität war im ,Inter‘ eine andere. Andererseits stand der Koch zu DDR-Zeiten zumeist hinter den Kulissen. Danach schauten die Küchenchefs häufig im Gastbereich herein.“

Er bedauert, dass es „heute nicht mehr so viel Individualität in der Küche gibt“. Selbst in der gehobenen Gastronomie werde heute mit vorgefertigten Produkten gearbeitet. „Wir haben alles selbst gemacht – sogar Pommes und Kroketten.“

Die Zusammenarbeit zwischen den Interhotels habe super geklappt. Das war ein gegenseitiges Geben und Nehmen. „Als mein Kollege aus Leipzig mal knapp mit Kalbfleisch war, hat er mich angerufen. Wir hatten den Kühlraum voll. Kurze Zeit später war der Leipziger mit seinem Privatauto da und hat aufgeladen – natürlich alles mit Lieferschein.“ Kluge selbst isst am liebsten deftige Eintöpfe. „Die teuren Sachen hatte ich ja 47 Jahre lang im Betrieb.“