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Geburtshilfe Sachsen-Anhalts Hebammen am Limit

Sachsen-Anhalt gehen die Hebammen aus. Die wenigen Geburtshelferinnen arbeiten am Limit.

Von Juliane Just 13.02.2018, 00:01

Letzlingen/Gardelegen l Ein Pochen ist zu hören. Erst verwaschen, dann immer deutlicher. Der Herzschlag eines Fötus im Mutterleib. Hebamme Lena Grunack tastet den Achtmonatsbauch der Schwangeren ab. Bald wird das neue Leben auf der Welt sein – doch diesen wichtigen Moment wird die Hebamme nicht erleben.

Schweren Herzens hat sich Lena Grunack vor eineinhalb Jahren von der Geburtshilfe, dem Herzstück der Hebammenarbeit, getrennt. Vorbereitung auf die Geburt und Nachbereitung der Schwangerschaft betreut sie weiterhin, begleitet die Schwangeren teilweise über ein Jahr, doch bei der Geburt bleibt sie fern. „Es ist der wichtigste Moment der Schwangerschaft. Es ist ein schmerzlicher Verlust“, sagt die 32-Jährige.

Der Grund für ihre Entscheidung: Zeit. Lena Grunack ist freie Hebamme. Sie erhält damit im Unterschied zu festangestellten Klinikhebammen keinen einheitlichen Lohn, sondern ein Honorar je nach abgerechneter Leistung. Damit ist Lena Grunack selbständig und kann sich ihre Zeit frei einteilen. Trotzdem ließen sich Zeit für die Familie, für Hausbesuche sowie für Rufbereitschaft bei Geburten für sie nicht unter einen Hut bringen. Als freie Hebamme hat Lena Grunack im Vergleich zu angestellten Hebammen keinen Schichtplan – aber trotzdem ein Familienleben.

Rund 60 Frauen sind in Letzlingen (Altmarkkreis Salzwedel) und der Umgebung über ein Jahr gerechnet in der Obhut der Hebamme. Vier bis fünf Schwangere nimmt sie pro Monat in ihren Plan auf - die Sechste muss Lena Grunack ablehnen. „Eine individuelle Betreuuung hat seine Zeit“, sagt Lena Grunack.

30 Minuten. So viel Zeit hat die Hebamme theoretisch pro Hausbesuch und Frau – aus finanzieller Sicht. Jede Minute darüber hinaus wird nicht vergütet. Doch die Termine nehmen meist mehr Zeit in Anspruch. Die Hebamme möchte sich Zeit für die individuelle Betreuung nehmen.

Der Landeshebammenverband beklagt seit Monaten, dass es zu wenig Hebammen in Sachsen-Anhalt gibt. „Überall werden Hebammen gesucht, die Not wird immer größer“, sagt Petra Chluppka, Vorsitzende des Hebammenverbandes Sachsen-Anhalts. Geburtenstationen wie in Haldensleben oder Weißenfels (Burgenlandkreis) mussten schließen. „Wir stellen in Sachsen-Anhalt durchaus eine Not an Hebammen in bestimmten Regionen fest“, bestätigt Andreas Pinkert, Pressesprecher des Sozialministeriums. Die Unterversorgung sei jedoch nicht flächendeckend. Der Landeshebammenverband beklagt in vielen Regionen den dringenden Bedarf an Hebammen, von Arbeit am Limit ist die Rede.

Das hat Lena Grunack am eigenen Leib zu spüren bekommen. In der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe in Gardelegen übernahm die Hebamme im Jahr 2016 einen Nachtdienst pro Woche. Obwohl sie wöchentlich nur eine Nacht arbeitete, bekam sie die Bandbreite der Klinikarbeit mit. Bis zu drei Gebärende versorgte Lena Grunack in der Klinik gleichzeitig. „Ich konnte den Frauen nicht gerecht werden und mir selbst auch nicht“, sagt sie. „Was bleibt, ist Unzufriedenheit auf beiden Seiten.“

Heute, zwei Jahre später, arbeiten im Altmark-Klinikum Gardelegen acht Hebammen in Teilzeit. Laut Pressesprecherin Ivonne Bolle ist die personelle Aufstellung damit zu 100 Prozent abgedeckt. Eine Hebamme ist demnach pro Schicht für den Bereich Kreißsaal zuständig. Maximal zwei Entbindungen können gleichzeitig stattfinden. Die Situation in der Klinik hat sich also verbessert – für Lena Grunack ist die Klinikarbeit trotzdem keine Option mehr.

Dabei war ihr die Arbeit als Beleghebamme bereits vertraut. Bevor sie im Jahr 2013 in ihre Heimat Letzlingen zurückkam, war Lena Grunack als Geburtshelferin in der Oberpfalz (Bayern) tätig. Dort war die Arbeitssituation eine gänzlich andere. Als Beleghebamme arbeitete sie dort nach ihrer Ausbildung mit einem festen Schichtplan, mit Pausen – und mitsamt Geburtshilfe. Heute, knapp 500 Kilometer nördlich, sieht sie kaum noch eine Klinik von innen, dafür den Innenraum ihres Fahrzeugs umso mehr. Im Umkreis von 30 Kilometern versorgt sie die Schwangeren – inzwischen mit einer besseren Vergütung. Seit Januar ist ein Schiedsspruch in Kraft, der für einige Leistungen der freien Hebammen 17 Prozent mehr berechnet. „Ich profitiere davon, andere zittern davor“, sagt sie.

Der Schiedsspruch beinhaltet nämlich auch, dass freie Hebammen nur noch die Betreuung von zwei Frauen gleichzeitig abrechnen können. Die Betreuung einer dritten Frau ist nicht ausgeschlossen – wird jedoch nicht vergütet. Welche Auswirkungen die neuen Regelungen auf die Qualität der Geburtshilfe in Deutschland haben, muss die Praxis zeigen.

Dabei sind die Ziele der Hebammenverbände sogar noch höher gesteckt: „Wir fordern sogar, dass eine Hebamme sich nur um eine Gebärende kümmert“, sagt Petra Chluppka vom Landeshebammenverband. „Die Umsetzung ist jedoch mehr als schwierig.“ Sie fordert, die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Hebammen anzupassen. Das bedeute, Tätigkeiten zu streichen, um eine intensivere Betreuung möglich zu machen.

Einige Hebammen hätten bereits das Handtuch geworfen – oder geben wie Lena Grunack die Geburtshilfe auf. Laut dem Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen arbeiteten im Jahr 2017 knapp 18.400 freiberufliche Hebammen in Deutschland. Nur ein Viertel davon betreut die Frauen auch während der Entbindung, alle anderen haben sich gegen die Geburtshilfe entschieden. Dieser Trend ist seit fast zehn Jahren zu beobachten.

Ein Grund dafür: Die Kosten für die Haftpflichtversicherung. Diese ist bei freien Hebammen in den vergangenen Jahren immens gestiegen. Haben freie Hebammen im Jahr 1981 noch 30 Euro bezahlt, waren es im Jahr 2004 bereits 413 Euro, zehn Jahre später 5100 Euro. Und die Tendenz bleibt steigend. Bis zum Jahr 2020 werden es fast 10.000 Euro sein. Zum Vergleich: Die Summe für die Versicherung ohne Geburtshilfe liegt derzeit bei 457 Euro jährlich – ein Bruchteil.

Doch warum ist der Beitrag so hoch? Seit Jahren nimmt die Zahl von Entbindungsfehlern, die Geburtsschäden zur Folge haben, ab – trotzdem steigt die Haftpflicht für Hebammen. Das hängt mit der medizinischen Entwicklung zusammen: Menschen mit Behinderung haben heute eine höhere Lebenserwartung und auch wenn Geburtsschäden seltener werden, steigen die Kosten pro einzelnem Schadensfall drastisch an. Dazu zählen sowohl die medizinische, pflegerische und soziale Versorgung sowie die lebenslange Einkommenssicherung der Geschädigten. Hohe Prozess- und Anwaltskosten kommen meist hinzu.

Seit 2010 übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen einen Teil der Haftpflichtprämien. Im Jahr 2016 übernahmen sie 70 Prozent der Summe. „Wir sehen die Hebammen nicht in einer Krise“, sagt Florian Lanz, Pressesprecher des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenversicherung.Die Ausgaben der Kassen für Hebammenleistungen seien von 2008 bis 2016 um rund 60 Prozent gestiegen. Im Jahr 2016 zahlten die Krankenkassen insgesamt 588 Millionen Euro, um die Hebammen zu entlasten. Deswegen zieht Lanz das Fazit: „Die Hebammen werden von der gesetzlichen Krankenversicherung gut bezahlt und ihre Arbeit wird sehr geschätzt.“

Lena Grunack hat trotz der schwierigen Situation nie in Betracht gezogen, ihren Beruf aufzugeben. Trotzdem vermisst sie die Geburtshilfe, will sie nicht gänzlich loslassen. Sie hofft auf eine Gelegenheit, wenn die Kinder größer sind. „Es ist so ein besonderer Moment, wenn das Baby auf der Welt ist, die Mama erleichtert lächelt und der Papa Tränen in die Augen bekommt“, berichtet sie. „Diesen Moment kann mir keiner nehmen.“ Meinung

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