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Geschichte Der Tankstellenengel

Eine Weihnachtsgeschichte, die in einer Tankstelle spielt.

Von Friedemann Kahl 26.12.2019, 13:22

Der Engel auf dem Zigarettenregal hatte schon wieder aufgehört zu leuchten. Ramona stupste ihn an, doch die beiden Lämpchen in seinen Händen blieben dunkel. Der Plastikengel musste wohl einen Wackelkontakt haben. An der Batterie lag es jedenfalls nicht. Die hatte Ramona bereits getestet, als er vorhin schon einmal streikte. Nun hat er wohl endgültig den Geist aufgegeben.

„Dann eben nicht“, sprach Ramona leise zu sich selbst und ging zum Kühlregal, um die Getränke aufzufüllen.

Draußen fuhr ein blauer Kombi an Säule 4. Eine Frau stieg aus. In ihrem bunten Zweiteiler sah sie aus wie ein Kanarienvogel. Sie öffnete den Tankverschluss und steckte die Zapfpistole in die Öffnung. Auf der Rückbank saßen zwei Mädchen mit Weihnachtsmannmützen und vorne tippte ein Mann angespannt auf seinem Handy herum.

Ramona trottete schon mal vom Kühlregal zur Kasse.

„Frohe Weihnachten“, flötete die Frau, als sie die Tankstelle betrat. Ramona antwortete stumpf: „Guten Abend.“

Die junge Frau griff im Vorbeigehen noch nach einer Tüte Halsbonbons und legte sie samt Kreditkarte auf die Theke.

„Macht dann zusammen 53,20 Euro“, sagte Ramona und mochte der Kundin gar nicht in die Augen schauen.

„Auch wenn Sie heute arbeiten müssen – trotzdem noch einen wundervollen Abend!“, juchzte die Frau und tänzelte wieder nach draußen. „Ihnen auch“, antwortete Ramona trocken und sah ihr hinterher, wie sie in den Wagen stieg. Die Tankstelle schien das einzige Gebäude im Gewerbegebiet zu sein, in dem noch Licht brannte und heute Abend jemand arbeitete. Die Lagerhallen, Autohäuser und Bürogebäude in der Nachbarschaft standen wie verlassen. Ramona hatte mit ihrer Kollegin gelost, wer wann den Spätdienst übernimmt. Auf einem Zettel stand 24, auf dem anderen 31. Eigentlich war Ramona ganz zufrieden, denn am Weihnachtsabend ist es an der Tankstelle relativ ruhig. Kein Vergleich zu dem Wahnsinn an Silvester.

Als Ramona noch gedankenverloren durch die Scheibe auf die leeren Zapfsäulen starrte, kam zügigen Schrittes ein Mann in die Tankstelle. Über dem dunkelbraunen Sakko trug er einen schwarzen Mantel und seine blaue Wollmütze war tief in die Stirn gezogen.

„Ich hätte bitte einen Kaffee“, sagte der Mann, als sei er es gewöhnt, andere herumzuschicken. „Ich brauche dringend etwas zum Aufwärmen.“

„Möchten Sie auch eine Wurst? Ich gebe eine aus. Ist zwar kein Weihnachtsbraten, aber macht trotzdem satt.“

Ramona

„Milch? Zucker?“, antwortete Ramona und ging zum Kaffeeautomaten. Der Mann nickte und positionierte sich an einem der drei Stehtische.

„Ich bin mit meinem Wagen liegengeblieben. Wahrscheinlich ist es wieder das Getriebe.“ Nicht, dass es Ramona interessiert hätte. Doch der Mann redete einfach weiter: „Der Pannendienst braucht heute mindestens zwei Stunden, bis er da sein kann, so lange bleibe ich bei der Kälte doch nicht im Auto.“ Er redete so laut, als wäre die Tankstelle voller Menschen und er müsste vor versammelter Mannschaft Rechenschaft ablegen.

„Der Wagen steht etwa zehn Minuten zu Fuß von hier. Die vom Pannendienst rufen mich an, wenn sie auf dem Weg sind. Dann laufe ich los. Bis dahin warte ich hier, sofern es keine Einwände gibt.“

„Ja, ja, machen Sie nur. Genug zu trinken gibt‘s ja auch“, murmelte Ramona und wies mit dem Kopf in Richtung des Kühlregals mit den Getränken. Der Mann nickte gequält.

Irgendwann goss sich auch Ramona einen Kaffee ein und machte sich eine Bockwurst mit Brötchen zurecht. „Möchten Sie auch eine Wurst? Ich gebe eine aus. Ist zwar kein Weihnachtsbraten, aber macht trotzdem satt.“

„Wenn Sie so fragen ... Ich könnte schon eine vertragen“, antwortete der Mann und lächelte verlegen.

„Senf?“, fragte Ramona und der Mann nickte wieder. Sie hatte es befürchtet: Als sie zum Stehtisch kam, um den Teller abzustellen, begann er wieder zu reden:

„Eigentlich müsste ich jetzt bei meiner Tochter sitzen“, seufzte er. „Sie hat mich für heute Abend eingeladen. 14 Jahre lang habe ich sie nicht mehr gesehen.“

„14 Jahre“, wiederholte Ramona und zog beim Kauen die Augenbrauen hoch.

„Ja, damals habe ich sie und ihre Mutter sitzenlassen. Von einem Tag auf den anderen. Meine Tochter war gerade 13. Seitdem war Funkstille“, sagte der Mann nachdenklich.

„War Funkstille? Nun nicht mehr?“, fragte Ramona zurückhaltend.

„Bis vor einer Woche. Da kam ein Brief von ihr. Sie schrieb mir, dass ich Opa geworden bin. Eine kleine Elsa. Und sie haben mich für heute Abend zu sich eingeladen.“

„Oh je“, kommentierte Ramona. Mehr fiel ihr im Moment nicht ein. Verlegen schaute sie auf ihre künstlichen Fingernägel. Als sie vor zwei Tagen im Nagelstudio war, hatte sie sich auf die langen, roten Nägel Weihnachtsmotive kleben lassen – einen Tannenbaum, eine Kerze, ein Rentier mit Schlitten.

Der Mann trank einen großen Schluck Kaffee und schwieg dann ebenfalls. Das Kühlregal mit den Getränken brummte leise vor sich hin – ansonsten war es still in der Tankstelle.

„Soll ich das Radio anmachen?“, fragte Ramona nach einer Weile.

„Wenn Sie wollen. Aber von mir aus nicht.“

Die Stille wurde Ramona unerträglich. „Weiß Ihre Tochter denn schon, dass Ihr Auto liegengeblieben ist?“

„Ich habe sie auf den Weg hierher angerufen. Und ihr gesagt, dass ich jetzt zu einer Tankstelle laufe und auf den Pannendienst warten muss“, erzählte der Mann mit belegter Stimme.

„Und? Wie hat sie reagiert?“

Er schaute Ramona an und Tränen standen in seinen Augen. „Sie hat nur einen Satz gesagt ... ‚Wie konnte ich nur glauben, dass du wirklich kommst.‘ ... Dann hat sie aufgelegt.“

Ramona schaute wieder verlegen auf ihre Fingernägel und kratzte mit dem Daumennagel über das Kerzenmotiv am Zeigefinger.

Vor der Tür war Gelächter zu hören. Schließlich kamen drei Sudanesen herein. „Was wollen die jetzt hier“, stöhnte Ramona leise und verdrehte die Augen.

Ramona kannte die Männer, sie kamen häufiger in den Abendstunden zur Tankstelle. Vermutlich wohnten sie im Containerdorf, der Flüchtlingsunterkunft am Stadtrand.

„Abend“, sagte einer der drei und die beiden anderen nickten Ramona zu. Sie gingen zu den Regalen und kamen schließlich mit einer Packung Kartoffelchips, einer Tüte Gummibärchen und einer Flasche Erdbeerlikör zur Kasse. „Alle Leute auf Feier, hier drinnen traurig“, sagte einer der Männer.

„Ja, ja, alle Leute auf Feier. So seht ihr aus“, antwortete Ramona barsch und legte das Wechselgeld auf den Kassentisch. Die drei Afrikaner gingen wieder hinaus und öffneten die Kartoffelchips.

Ein roter Wagen kam langsam auf das Tankstellengelände angefahren. Er fuhr jedoch nicht an eine Zapfsäule, sondern parkte quer vor der Waschanlage.

„Was wird denn das jetzt“, murmelte Ramona und blickte skeptisch aus dem Fenster.

Eine Weile geschah gar nichts. Dann stieg zuerst eine füllige Frau aus dem Wagen und direkt nach ihr ein Mann, der noch eine große Tasche von der Rücksitzbank nahm.

Schließlich gingen beide an den drei Männern vorbei Richtung Eingang.

Neugierig blickten Ramona und ihr Gast auf das Paar mit der Tasche. Als sich die gläsernen Schiebetüren öffneten, drang ein leises Wimmern aus der Tasche. Die junge Frau blieb einen Augenblick stehen und betrachtete nachdenklich den Mann am Stehtisch. Nach einer Weile sagte sie: „Na, Papa. Wenn du es nicht schaffst zum Christkind zu kommen, dann muss das Christkind eben zu dir kommen, nicht wahr?“ Dann stiegen ihr die Tränen in die Augen.

Plötzlich tat es einen kleinen Schlag hinter der Theke. Etwas musste auf den Boden gefallen sein. Ramona schaute auf die Fliesen, wo sie den Plastikengel liegen sah. Die beiden Lichter in seinen Händen leuchteten.

„Na, geht doch“, sagte Ramona. Hob den Engel auf und setzte ihn wieder auf das Zigarettenregal.