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GeschichteLuftschiff-Irrflug endete bei Magdeburg

Im November 1919 herrschte im heutigen Sachsen-Anhalt bereits tiefster Winter. In der Letzlinger Heide endete der Irrflug eines Zeppelins.

Von Manfred Zander 17.11.2019, 01:00

Magdeburg l Mit eisiger Kälte fiel vor 100 Jahren der Winter in die Städte und Dörfer im heutigen Sachsen-Anhalt ein. Am 18. November 1919 fiel das Thermometer der Wetterwarte der Magdeburgischen Zeitung auf 12,6 Minusgrade. Man müsse in der Temperaturchronik lange zurückblättern, um ähnliche Thermometerstände für die Novembermitte zu finden, schrieb das Blatt aus dem Faber-Verlag. Nur am 15. November 1835 sei es kälter gewesen.

Am 15. November machte sich ein Bäckermeister aus Güsen mit dem Pferdeschlitten im stürmischen Schneetreiben auf den Weg in die Sprengstofffabrik. Als er seine Geschäfte erledigt hatte, waren Pferd und Schlitten verschwunden. Gestohlen, wurde vermutet. Ein Irrtum. Zwei Tage später wurden Pferd und Schlitten unter einer Schneewehe entdeckt. Das Pferd hatte sich dort hingeworfen und war zugeschneit worden. Nun bangte der Bäcker um das Leben des Tieres.

In Magdeburg stockte der Straßenbahnverkehr. Die Stromversorgung sei am 2. November zusammengebrochen, berichtete die Volksstimme. „Auch die Salzstreuwagen mußten ihre Reinigungsarbeit einstellen.“ Viele Menschen seien der „weißen Masse“ mit Schaufeln und Besen zu Leibe gerückt.

Der Wintereinbruch kam zur Unzeit, gab es doch auch ohne Schnee und Frost Sorgen genug. Selbst die sozialdemokratische Volksstimme sandte ein Stoßgebet nach oben: „... mach es gnädig. Halt ein mit deinem Segen, wir sind sehr zufrieden, wenn du uns einen ,schwarzen‘ Winter gibst.“

Auch die Industrie litt. Ende des Monats ordnete die Magdeburger Firma Schäffer & Budenberg für acht Tage Kurzarbeit in der Gießerei an. Für die 500 betroffenen Arbeiter hieß das kurz vor Weihnachten, dass sie gekürzten Lohn erhielten. „Sollte in den nächsten 8 Wochen keine Kohle für diese Fabrik überwiesen werden, so muss mit der Stillegung sämtlicher Betriebe dieser Fabrik gerechnet werden“, verkündete die Chefetage des Buckauier Maschinen- und Dampfkesselherstellers.

Am 1. November hatte die Reichsregierung verfügt, den Personenzugverkehr für die Zeit vom 5. bis zum 15. November einzustellen. Das sollte die Schienen für Kohlen- und Kartoffeltransporte freimachen. Die Berliner Reederei Nobiling bot daraufhin zwischen Berlin und Magdeburg eine Dampferverbindung an. Pikanterweise hieß der dafür auserkorene Dampfer „Wintermärchen“. Er bot 200 Passagieren Platz und ein beheiztes Restaurant. In der B. Z. am Mittag wurde die erste Fahrt für den 9. November angekündigt.

Es ist die Zeit für allerlei nützliche und weniger nützliche Ideen. Am 3. Oktober stellte Frau Dr. Holz im Buckauer Admiralspalast den Sparkocher Petriko der Magdeburger Firma Petrikat & Co vor. Er mache unabhängig von der Gasversorgung und brenne zwei Stunden lang mit nur einem Brikett, versprach die Heizungstechnikerin. Woher die zusätzlichen Briketts fürs Kochen kommen sollten, wusste sie aber nicht zu sagen.

Da passte es, dass die Hamburger Firma Lindemann & Co auch in den Zeitungen der Provinz Sachsen einen Ersatz für Braunkohlenbriketts anbot. Die pfiffigen Hanseaten hatten der Heeresverwaltung nach dem Krieg alle Bestände der Kriegstabake aus Buchenlaub abgekauft. Nun hatten sie die Ersatztabake zu Ersatzbriketts geformt und versicherten: „Die fest gepreßten Pakete eignen sich sowohl ihrer Form als auch ihres Inhalts nach, ganz vorzüglich als Ersatz für Braunkohlenbriketts.“

Der Magdeburger Händler Robert Bensch bot in seinem Geschäft am Breiten Weg 253 Karbidlampen an, die „als Tischlampe, Küchenlampe, Hof- und Stallampe sowie für Keller, Boden und Waschhaus“ verwendbar seien. Karbid gab es im Laden „markenfrei, jed. Quantum“. Benschs Inserat erschien in der Sonntagsausgabe der Volksstimme am 2. November. Durchaus möglich, dass sie ein paar Häuser weiter, am Breiten Weg 188 von Georg Möwes gelesen wurde. Der Schlosser mag sich erinnert haben, dass er auf dem Dachboden noch eine Karbidlampe zu liegen habe. Das allerdings ist Spekulation. Erwiesen aber ist, dass Möwes am Sonntagabend auf den Boden stieg, seine Karbidlampe hervorkramte und ausprobierte. Die Lampe explodierte. Der Schlosser wurde so schwer verletzt, dass er bald darauf starb.

Im Magdeburger Polizeibericht war der Unfall auf dem Dachboden des Hauses Breiter Weg 188 nur eine kurze Notiz. Mehr Worte widmete das Polizeipräsidium den Erfolgen seiner Beamten. So war Kriminaloberwachtmeister Schulz auf Bitten der Kollegen vor Ort nach Hohenprießnitz bei Eilenburg geschickt worden, um dort Raubmord aufzuklären, dem schon vor geraumer Zeit eine Witwe und ihr Enkel zum Opfer gefallen waren. Tatsächlich schaffte es Schulz, den Fall aufzuklären.

Auch der Mord am Nachtwächter Packebusch, der im September während des Dienstes in der Reinigungsfirma Karutz erschlagen worden war, wurde nun mit der Festnahme eines zweiten Täters, des Magdeburgers Paul Knabe aus der Brauereistraße 5 endlich abgeschlossen.

Rätselhaft blieb vorerst ein vierfacher Mord in der Wolfenbütteler Straße 32. In der Wohnung des Mechanikers Arthur Frühbuß waren am 13. November die Ehefrau und drei der vier Kinder erdrosselt oder ertränkt worden. Frühbuß selbst saß beim Eintreffen der Polizei teilnahmslos in der Küche. Er wurde unter Mordverdacht festgenommen, aber bereits am nächsten Tag wieder freigelassen worden.

Elf Tage vor dieser Schreckenstat wäre es – etwa drei Dutzend Kilometer weiter nördlich – fast zu einer Katastrophe gekommen. Die Geschichte begann in Berlin. Ganz so, wie der Bäckermeister mit seinem Schlitten in Güsen, war auch das modernste Verkehrsmittel der Zeit, das erst nach dem Krieg gebaute Luftschiff LZ 120 „Bodensee“, in Berlin in einen Schneesturm geraten.

Seit August 1919 verkehrte das Luftschiff der zehn Jahre zuvor gegründeten Deutschen Luftverkehrs AG, der ältesten Fluggesellschaft der Welt, regelmäßig zwischen Friedrichshafen und Berlin. Bei der Landung in Berlin-Staaken am 2. November wurde es von Böen hoch und runter gedrückt. Aus Angst sprangen fünf der zwölf Besatzungsmitglieder und zwei von 31 Passagieren aus der Kabine.

Mit dem verringerten Gewicht war das Schiff noch schwerer zu steuern. Steuermann Albert Sammt befahl der Haltemannschaft – das Schiff wurde bei Landung und Start mit Halteseilen im Gleichgewicht gehalten – das Luftschiff freizugeben. LZ 120 stieg über die Wolken, war aber nach Ausfall beider Motore nicht zu steuern. Die Mannschaft setzte die Motore notdürftig instand. Aber für eine neue Landung in Staaken reichte die Motorkraft nicht aus. Auch der Sprit ging zu Ende. Deshalb wurde ein anderer Landeort gesucht.

In der Nacht setzte LZ 120 „Bodensee“ am Rande der Letzlinger Heide nördlich von Magdeburg im heutigen Landkreis Börde in einer Kiefernschonung bei Cröchern auf. Dass dies ohne Haltemannschaft am Boden gelang, grenzte an ein Wunder. Zu verdanken war es der Mannschaft um Kapitän Hans Flemming und dem Steuermann. Beide bedienten das Höhensteuer, während der mitgereiste Luftschiff-Konstrukteur Ludwig Dürr das Seitensteuer bediente.

Alle Insassen kamen mit dem Schrecken davon. Sie wurden mit dem Bus nach Berlin gefahren. Vermutlich erfuhren sie erst dort, dass ein Mitglied der Haltemannschaft in Staaken das Seil zu spät losgelassen hatte. Aus 50 Metern Höhe war er in den Tod gestürzt.