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Gewächshäuser Börde-Erdbeeren reifen unter Glas

Draußen pfeift der nieselige Novemberwind um die Gewächshäuser. Drinnen summen Hummeln. In Osterweddingen entstehen Vitamine auch im Winter.

Von Bernd Kaufholz 23.11.2017, 00:01

Osterweddingen l Renata Faron aus dem polnischen Kamenica erntet die reifsten Früchte in den fast unzähligen Reihen der Erdbeer-Pflanzen, die in pflückfreundlicher Höhe wachsen. Ihr Arbeitsplatz ist das größte Erdbeerfeld unter Glas in Sachsen-Anhalt.

Projektmanager Helmut Rehhahn weiß, dass die Abnehmer schon auf das süße Obst aus der Sülzetal-Gemeinde warten und mit der Qualität sehr zufrieden sind. Der Aufkleber auf den 250-Gramm-Schälchen mit der Aufschrift „Erdbeeren aus Sachsen-Anhalt“ lässt die Philosophie des holländischen Unternehmens „Joris Gemüse“ erahnen: „Local for Local“, dem Sinne nach übersetzt: „Aus der Region – für die Region“.

Haupt-Betreiber Jorg von der Wilt, der 20 Jahre lang in Holland Paprika angebaut hat, ließ sich von dem Gedanken leiten, dass in Deutschland während der kühleren Jahreszeiten lediglich zehn Prozent Obst und Gemüse unter Glas angebaut und im Gegenzug 90 Prozent eingeführt werden. Im Winter sogar aus Nordafrika und Israel. Was natürlich einen schmeckbaren Qualitätsverlust nach sich zieht. Van der Wilt verkaufte seine Gewächshäuser in der Heimat und stürzte sich bei Osterweddingen in ein neues Projekt.

Rehhahn: „Wichtig sind die drei Komponenten Wärme, Kohlendioxid, Licht. Und genau dafür sind die Voraussetzungen im Gewerbegebiet der Gemeinde Sülzetal hervorragend.“

Da wäre zum einen die Wärme. „Die kommt von unserem Nachbarn, dem Glas-Werk“, erzählt der Projektmanager. „Sie stammt von der Abwärme, die bei der Glaswannenkühlung entsteht.“ Zwar werde mit einem Teil eine Dampfturbine angetrieben, aber ein Rest bleibt immer noch und der wurde zuvor in die Luft geblasen. „Wir heizen nun unsere Gewächshäuser damit.“

Mit dem Glas sei lange experimentiert worden. Schließlich bringe ein Prozent mehr Licht ein Prozent mehr Ertrag, so Betriebsleiter Sebastian Beitz.

Das Kohlendioxid-Problem, das entscheidend für die Photosynthese der Pflanzen ist, wird durch die Abgase des Blockheizkraftwerks gelöst. Sie werden gereinigt, übrig bleiben CO2 , Wasser und Luft.

Zwischen den Pflanzen schlängelt sich ein Röhrensystem, durch das das Obst und Gemüse bewässert und mit Kohlendioxid versorgt werden.

Der Gartenbauingenieur bietet eine Erdbeere an. Überraschend süß und fruchtig – nicht so hart wie die üblichen Wintererdbeeren, die importiert werden, mit viel mehr Aroma, weil nicht grün geerntet und nachgereift. „Der Nachteil ist allerdings, dass die Früchte schnell vermarktet werden müssen“, sagt er. „Es ist eben ein echtes Regionalprodukt.“

Zweimal im Jahr können in Osterweddingen Erdbeeren geerntet werden. Ab Mitte Oktober bis Ende November und von Februar bis März. Beitz: „Zwölf bis 14 Kilogramm pro Quadratmeter sind in Ordnung. Das ist das Doppelte des Freilandertrags.“

Über den Erdbeerpflanzen hängen Schwefelverdampfer gegen Mehltau. Zwischen den grünblättrigen Gewächsen mit den roten Früchten summen Hummeln – übrigens auch im vorderen Glashaus, in dem die Tomaten ranken. Beitz öffnet einen der Kästen mit dem Aufdruck „Hummeln“.

Es summt und brummt über dem Unterteil mit der zuckerhaltigen Nährflüssigkeit. Die Insekten ersetzen im Gewächsnhaus das natürliche Lüftchen, denn Tomaten und Erdbeeren sind von Natur aus eigentlich „Windbestäuber“. Im Gewächshaus sind es die dicken Hautflügler, die die Pollen weitertragen.

Und warum keine Bienen? „Hummeln sind dicker und tragen deshalb mehr Pollen. Außerdem sind sie verschwiegener“, schmunzelt der Gartenbauexperte. „Eine Biene holt gleich ihre Kollegen, wenn sie etwas Genießbares entdeckt hat. Die Hummel ist Egoist.“ Außerdem würden sich Bienen im Gewächshaus nicht besonders wohlfühlen.

Und noch ein Insekt spielt eine Rolle bei „Joris“ – die Schlupfwespe. Sie macht Jagd auf die Weiße Fliege, einen Parasiten, der ganze Ernten vernichten kann. „Wir wollen hier keine Chemie“, sagt dann auch Projekt-Chef Rehhahn. „Allerdings haben wir trotzdem kein Bio-Zertifikat, weil unsere Pflanzen nicht in der Erde wachsen, sondern in einem Gemisch aus Kokosfaser, Erde und Perliten, also vulkanischem Glas.“

Auf je 1,5 Hektar wachsen Tomaten und Erdbeeren, auf drei Hektar Gurken. Letztere sind allerdings schon abgeerntet. „Das war nur eine Zwischenlösung“, berichtet Beitz und zeigt auf Hunderte von pflanzenlosen Reihen. Dort wird im nächsten Monat Paprika gepflanzt. Ende März wird dann geerntet – eine Hälfte rote, je ein Viertel in Gelb und Orange. Grüner Paprika komme bei den Verbrauchern „nicht so an“.

2,1 Millionen Gurken wanderten bis vor wenigen Tagen in die Versandkisten. „Dazu eine große Zahl von krummen. Für die Verarbeitung und für die Gastronomie“, sagt Rehhahn. Stammgäste seien auch Tafeln gewesen, die sich das grüne Gemüse abgeholt haben.

Durch die drei Gewächshaus-Komplexe führt ein etwa zwei Meter breiter Betonweg. Daneben – unter den Obst- und Gemüsepflanzen – liegt der schwere Bördeboden „Der Betonweg ist die einzige Strecke, die befestigt wurde“, sagt der Projektmanager, der von 1994 bis 1996 SPD-Landwirtschaftsminister in Sachsen-Anhalt war. Er reagiert mit dieser Aussage auf Kritiker, die monieren, dass das niederländische Unternehmen wertvolles Ackerland versiegeln würde. „Sollte die Anlage einmal zurückgebaut werden, kann dieser schmale Streifen ganz schnell entfernt werden.“

Über den fast vier Meter hohen Tomatenpflanzen, die in einem ausgetüftelten System so ranken, dass die „Capricia“ immer in Armhöhe wachsen, wurden vor wenigen Tagen Speziallampen installiert. Sie werden in der dunklen Jahreszeit eingeschaltet. „Ohne Beleuchtung ernten wir etwa 65 Kilo pro Quadratmeter, mit diesem zusätzlichen Licht 80 Kilo unserer Rispentomaten“, sagt der Betriebsleiter.

Renata aus Kamenica hat wieder eine Lage auf ihrem Erntewagen mit Erdbeeren aufgefüllt. Sie schiebt sich eine der süßen Früchte in den Mund und sagt dann lächelnd: „Bardzo dobrze – sehr gut“.