1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Ein glückliches Kind schlägt nicht zu

EIL

Gewalt an Schulen Ein glückliches Kind schlägt nicht zu

Wenn junge Kinder, wie an der Grundschule Hessen, aggressiv werden, hat dies Gründe, erklärt Elke Dohrmann vom Sorgentelefon Halberstadt.

Von Sandra Reulecke 04.03.2018, 01:07

Halberstadt l Elke Dohrmann ist Diplom-Sozialpädagogin und koordiniert das Kinder- und Jugendtelefon in Halberstadt. Die 54-Jährige ist Mutter zweier erwachsener Töchter und lebt in Aspenstedt, einem Ortsteil Halberstadts. Im Gespräch berichtet sie draüber, warum Kinder das Sorgentelefon nutzen und wie Eltern ihre Kinder unterstützen können.

Mit welchen Sorgen wenden sich Kinder und Jugendliche an Sie?
Elke Dohrmann:
Stress mit den Eltern, Sucht, Angst um Freunde. Viele haben Kummer in der Liebe und das Gefühl, sie werden mit diesen Sorgen von Erwachsenen nicht ernst genommen. Aber auch Mobbing und Ausgrenzung sind ein großes Thema.

Hat Mobbing zugenommen?
Das würde ich so nicht unterschreiben. Ich kenne keine Untersuchungen, die das belegen. Was sich verändert hat, sind die gesellschaftliche Wahrnehmung und die Formen. Es gab sicher schon immer Kinder, die in der Schule ausgegrenzt wurden. Aber das war kaum ein öffentliches Thema. Und die Kinder waren allein damit. Im Internet trauen sich heute wegen der Anonymität mehr Kinder und Jugendliche, andere niederzumachen. Das Schlimme ist, dass sich das nicht mehr auf die Klasse oder Schule begrenzt. Durch das Internet zieht das weitere Kreise. Und das zu löschen, ist aufwändig.

Wissen Eltern, was in ihren Kindern vorgeht, welche Sorgen sie haben?
Das wissen die Berater vom Elterntelefon besser. Aber um zu erfahren, was mein Kind beschäftigt, ist es wichtig, ihm Redezeit einzuräumen. Wenn das Kind nicht reden mag, kann es helfen, selbst vom eigenen Tag zu erzählen.

Ihrer Erfahrung nach, verhalten sich Kinder in der Schule sehr viel anders als zu Hause?
Natürlich gibt es Unterschiede, das wissen die meisten Eltern auch. Meine These lautet: Kinder, die sich zu Hause sicher und geborgen fühlen, leben ihre stressige Seite eher zu Hause aus und sind dafür in der Schule ruhiger. Ein Kind, das sich jedoch massiv nicht an Regeln hält, hat ein Problem mit sich. Und es ist unglücklich!

Was können Ursachen sein, dass schon Grundschüler den Unterricht stören oder gar die Schule schwänzen?
Der Ursachen und Gründe gibt es viele. Unter- oder Überforderung sind denkbar. Eine pauschale Antwort lässt sich darauf nicht geben. Allerdings sollte gerade bei Grundschülern die Schule ein Ort sein, an dem sie sich wohlfühlen und zu dem sie gern gehen – sei es nur drum, um andere Kinder zu treffen. Wenn das schon in einem so jungen Alter nicht der Fall ist, sollten alle beteiligten Erwachsenen sich die Mühe machen und Zeit nehmen herausfinden, warum. Hat es überhaupt ein Unrechtsbewusstsein? Welche Geschichte hat das Kind? Es kommt schließlich nicht als Schulschwänzer plötzlich zur Welt, sondern hat schon einiges erlebt.

Warum werden Kinder aggressiv?
Ein glückliches, selbstsicheres Kind schlägt im Normalfall nicht zu. Aggression ist ein Zeichen dafür, dass etwas raus muss. Es muss Gründe dafür geben, wenn ein Kind das nicht in einer gesellschaftlich anerkannten Form und altersentsprechend äußern kann – immer unter der Voraussetzung, dass keine psychischen Erkrankungen vorliegen.

Melden sich Täter bei Ihnen?
Wenn sich Kinder bei uns melden, die sich anderen gegenüber rüpelhaft verhalten, besteht bei ihnen bereits ein Leidensdruck. Sie wissen, dass sie sich nicht im Griff haben, sind ein Opfer ihrer selbst. Es gehört viel Mut dazu, das auszusprechen. Statt über ihr Verhalten zu schimpfen, ist es wichtig, herauszufinden, was die Kinder so wütend macht und sie zu unterstützen, ihre Wut anders zu äußern, Sport, Wutball zum Kneten. Da gibt es viele Möglichkeiten.

Wie können Lehrer Mobbing entgegenwirken?
Es gibt meistens einen, der damit anfängt. Wenn sich so etwas in der Klasse andeutet, sollten Lehrer so schnell wie möglich eingreifen und es mit allen Schülern diskutieren. Und ganz wichtig: Es muss geschaut werden, was der Täter für ein Problem hat. Grundlos agiert ein Kind nicht aggressiv.

In den sozialen Netzwerken wird unter anderem der antiautoritäre Erziehungsstil dafür verantwortlich gemacht.
Ein Kind als gleichberechtigten Partner zu sehen und es in allen Bereichen selbst entscheiden zu lassen, überfordert Kinder. Der Raum für Mitbestimmung sollte sich altersentsprechend vergrößern, bis das Kind erwachsen ist und selbst entscheiden kann und muss. Aber nicht bei kleinen Kindern. Wenn es zum Beispiel kalt ist, muss der Schal auf dem Spielplatz getragen werden. Das sollte ich dem Kind erklären: Ich möchte, dass du gesund bleibst und dich nicht erkältest. Weigert sich das Kind, geht es nach Hause – möglichst ruhig und friedlich, aber konsequent, weil es nicht erkranken soll. Das ist nicht verhandelbar, aber eben erklärbar. Und diese Mühe sollten sich Erwachsene machen. Das kostet Zeit und Nerven, aber Begründungen und Konsequenz lohnen sich langfristig.

Kinder brauchen also Regeln?
Definitiv. Regeln und Regelmäßigkeit. Zum Beispiel sollte immer in einem bestimmten Zeitfenster gegessen werden, mit allen, die zu Hause sind. Feste Strukturen geben einem Kind Sicherheit.

Bei vielen Kommentaren auf Facebook bekommt man den Eindruck, dass viele eher das Gegenteil von antiautoritärer Erziehung anwenden ...
Es kommt vor allem darauf an, wie Autorität eingesetzt wird. Wenn auf Regelbrüche keine Konsequenzen folgen, bringen Regeln nichts und das Anbrüllen hinterher auch nicht. Man sollte Kinder loben, sie stärken, sich wirklich für sie interessieren, sie ernst nehmen. Man sollte ihnen erklären, warum etwas nicht geht und sie müssen auch ein Nein aushalten können. Bei all dem sollte man aber nicht vergessen, dass es normal und gut ist, dass Kinder auch ihre Grenzen testen. Das ist wichtig für ihre Entwicklung.

Ist es nicht ebenso normal, dass Kinder auch untereinander kleine Machtkämpfe ausleben und versuchen, sich gegen Gleichaltrige zu behaupten?
Bedingt. Ich bin nicht dafür, dass das mit Gewalt geschehen muss. Mit sieben, acht Jahren kann ein Kind Konflikte mit Worten ausfechten und sollte begonnen haben, zu lernen, seine negativen Emotionen nicht vorrangig in Form von Gewalt zu äußern. Sofern es ihm vorgelebt wurde. Das ist ein Lernprozess.

Wie meinen Sie das?
Eltern und Lehrer sind Vorbilder, ihr Verhalten prägt. Sie sollten Höflichkeiten wie das Grüßen im Schulflur oder bitte und danke zu sagen, vorleben – auch untereinander. Wenn Erwachsene es nicht schaffen, vernünftig und zielführend miteinander zu kommunizieren, was sollen Kinder daraus lernen?

Gibt es ein Kommunikationsproblem zwischen Lehrern und Eltern?
Ich denke, die Kommunikation ist schwieriger geworden. Eltern stehen heute unter großem Druck, die Lehrer ebenfalls. Kontinuität bei den Klassenlehrern und im Lehrkollektiv sind eine wichtige Basis für langfristiges pädagogisches Handeln. Kinder mit Problemen können so frühzeitig unterstützt und der Kontakt mit den Eltern auch langfristig gestaltet werden. Eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule hilft allen Beteiligten und ist im Interesse der Kinder notwendig. Verantwortung für die Kinder tragen alle Erwachsenen!