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Grenztod Der ungesühnte Tod des Hartmut Tautz

Das Schicksal des Magdeburgers soll der Ausgangspunkt werden für eine neue europaweite juristische Aufarbeitung.

Von Lion Grote 01.09.2015, 01:01

Magdeburg l Nur 20 Meter. Am Ende von 700 Kilometern Flucht fehlten nur 20 Meter. In Sichtweite hinter der Grenze zwischen der Tschechoslowakei und Österreich leuchteten in jener Nacht die Lichter der Freiheit. Kurz davor wurde Hartmut Tautz von Hunden zerfleischt. Der damals 18-jährige Magdeburger bezahlte seinen Mut mit dem Leben.

Sein Schicksal ist bei weitem kein Einzelfall. Noch immer ist nicht eindeutig klar, wie viele Menschen an den Mauern, Zäunen und Grenzanlagen Europas starben. Allein an der tschechoslowakischen Grenze waren es bis 1989 vermutlich mehr als 280. Doch der Fall Hartmut Tautz ist bis heute für viele Wissenschaftler und Opfervertreter ein besonders drastisches Beispiel für die Grausamkeit der Regime.

Hartmut Tautz wuchs in guten Verhältnissen in Magdeburg auf. Ein engagierter Schüler, musisch begabt, schlank, freundliches Lächeln. Eher intellektuell als rebellisch. Seine Meinung aber hielt er nie zurück. Und die passte nicht zum System. In der Schule soll er einmal einen Trauerflor um das Bild Erich Honeckers gebunden haben. Spätestens da geriet er in das Visier des Staates. Sein Wunsch, Musik zu studieren, wurde abgelehnt, Hartmut Tautz stattdessen zum Militär geschickt.  Eine schreckliche Vorstellung für den empfindsamen jungen Mann.

Irgendwann im Frühjahr 1986 muss die Entscheidung zur Flucht gefallen sein. Das Ziel waren vermutlich Verwandte im Westen. Seiner Mutter erzählte Hartmut, er würde mit seiner Klasse eine Abschlussreise nach Leningrad machen. Tatsächlich saß er wenig später in einem Zug nach Bratislava. Er wusste, wie nah dort die Grenze zu Österreich ist. Mehrere Tage verbrachte Hartmut Tautz in der Stadt. Am Abend des 8. August 1986 schließlich ging er los. Am Rande der Stadt waren große Maisfelder, die bis an die Grenzzäune heranreichten. Hier wollte er unbemerkt Richtung österreichische Grenze laufen. Doch an einem dieser Zäune löste Hartmut Tautz den Alarm aus. Es war 22.16 Uhr. Sofort ließen die diensthabenden Grenzer ihre Wachhunde los: Deutsche Schäferhunde, die eigens für den Einsatz an der Grenze gezüchtet und ausgebildet wurden.

Als die beiden Schäferhunde Hartmut Tautz schließlich erreichten, war er ohne Chance. Ihre kräftigen Kiefer zerbissen Ober- und Unterschenkel, die Zähne bohrten sich in den Schädel, ganze Fleischfetzen rissen sie aus seinem Leib. Wie aus den Verhörprotokollen der Grenzpolizei hervorgeht, fanden die Grenzer ihn schwerverletzt und blutgetränkt im Feld. Doch statt ihm zu helfen, befragten die Männer den Wimmernden nach seinen Personalien und durchsuchten die Umgebung nach weiteren Flüchtlingen. Stunden später erlag Hartmut Tautz seinen Verletzungen.

Wie grausam diese letzten Stunden von Hartmut Tautz gewesen sein müssen, belegt auch ein medizinisches Gutachten, das damals erstellt wurde. Demnach hätte Tautz überleben können, wenn ihm schneller geholfen worden wäre. Eine bemerkenswerte Einschätzung der Mediziner. Konsequenzen hatte sie freilich keine. Bis heute. Kein Verantwortlicher wurde jemals für den Tod von Hartmut Tautz angeklagt.

Neela Winkelmann will das ändern. Sie ist Geschäftsführerin der „Europäischen Plattform für Erinnerung und Gewissen“. Die Plattform koordiniert bei der EU die Zusammenarbeit internationaler Institutionen, die sich mit kommunistischer und sozialistischer Vergangenheit beschäftigen. Mitglieder sind auch zahlreiche hochrangige europäische Politiker. Der Tod von Hartmut Tautz und der vielen weiteren Opfer sind für Neela Winkelmann „Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die nie verjähren“.

Neela Winkelmann ist eine zierliche Frau mit einem sehr starken Willen. Und als gebürtige Pragerin weiß sie genau, wovon sie spricht. Umso wichtiger ist es ihr, gegen das Vergessen anzukämpfen. Von einem Schlussstrich will sie nichts wissen. „So viele Menschen haben sich in Europa für Demokratie und Freiheit eingesetzt und sind dafür gestorben. Ihnen sind wir es schuldig zu beweisen, dass das neue System wirklich besser ist und sich ihr Einsatz gelohnt hat.“ Würde man die Todesfälle einfach zu den Akten legen, käme das für sie einem Verrat an den Opfern gleich. „Damit würden wir sagen, dass es eigentlich egal war, was damals passierte. Dass es okay war Straftaten zu verüben. Und bis heute okay ist.“

Im Fall von Hartmut Tautz konzentriert sich alles auf die drei noch lebenden Mitglieder des Präsidiums des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei: Milouš Jakeš (92), Lubomir Štrougal (90) und Peter Colotka (90). Alle drei leben bis heute unbehelligt in ihrer Heimat. An ihrer Verantwortung besteht allerdings kein Zweifel.

Schon einmal, 2008, sollte es den drei Männern an den Kragen gehen. Das slowakische Pendant zur deutschen Stasiunterlagen-Behörde präsentierte damals umfangreiche Akten zu den Todesfällen an der Grenze. Der leitende Mitarbeiter Lubomir Morbacher übergab diese Akten dem Generalstaatsanwalt und glaubte fest an Ermittlungen.

Doch es passierte nichts. „Der Generalstaatsanwalt hat keine Anklage erhoben und die Ermittlungen eingestellt“, berichtet Morbacher. Die alten Verbindungen scheinen hier noch zu funktionieren. Der Generalstaatsanwalt war schon vor der Wende im Staatsdienst. Da möchte man alten Gönnern vielleicht nicht unbequem werden. Lubomir Morbacher hat die Behörde inzwischen verlassen. An ernste Ermittlungen kann er nicht mehr glauben: „Es fehlt der politische Wille.“

Es sind Fälle wie dieser, die Neela Winkelmann meint, wenn sie sagt, dass „Ungerechtigkeit weiter lebt“. Und er zeige aus ihrer Sicht auch, „dass wir in einigen Ländern auf nationaler Ebene nicht mehr weiterkommen“. Winkelmann setzt sich daher für europäische Strafverfolgung der Verbrechen ein. Und ihr Einsatz scheint bei der EU gehört zu werden.

Im Juni wurde vor dem europäischen Parlament in Brüssel auf Bestreben einer Gruppe von EU-Politikern eine Skulptur eingeweiht. Sie zeigt den Tod von Hartmut Tautz auf sehr drastische Art. Die feierliche Rede hielt EU-Kulturkommissar Tibor Navracsics. Ein nicht unumstrittener ungarischer Politiker. Doch was er sagte, war deutlich: „Noch immer leben viele Täter unter uns, die nie zur Rechenschaft gezogen wurden. Wir haben die moralische und juristische Verantwortung für Gerechtigkeit zu sorgen.“

Doch wie soll diese juristische Strafverfolgung aussehen? Es gibt in Europa kein Gericht, das speziell für die Verbrechen der sozialistischen Diktaturen zuständig ist. Auch der ehemalige Verfassungsrichter von Sachsen-Anhalt und Völkerrechtler Michael Kilian sieht derzeit nur geringe Chancen. „Der Internationale Strafgerichtshof ist erst für Verbrechen ab Juli 2002 zuständig. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederum ist kein Strafgericht.“ Es bliebe eine Klage vor dem Internationalen Gerichtshof. Die kann nur von Staaten erhoben werden. Und das wird nicht passieren. Auf Anfrage der Volksstimme erklärt das Bundesjustizministerium: „Wir werden uns in die juristischen Angelegenheiten der Slowakei nicht einmischen. Wir vertrauen auf die Institutionen unseres EU-Partners.“ In Ausnahmefällen wäre auch in Deutschland eine Anklage von Straftaten möglich, die im Ausland begangen wurden. „Dafür muss aber ein sogenanntes Weltverbrechen wie Menschenhandel, Terrorismus oder Piraterie vorliegen“, erklärt Kilian.

Solange also ein Staat nicht ermitteln will oder kann, bleiben Verbrechen ungestraft. Auch Neela Winkelmann kennt die schwierige Lage in Europa. Doch hinnehmen möchte sie es eben nicht. Die Europäische Union hat bereits vor einigen Jahren ihre Mitgliedsstaaten offiziell aufgefordert, Verbrechen, die unter sozialistischer Herrschaft begangen wurden, zu untersuchen. Winkelmann und ihre Initiative arbeiten also nun am nächsten Schritt. Eine Expertengruppe mit erfahrenen Juristen soll ermitteln, wie Fälle wie der von Hartmut Tautz auch heute noch verfolgt werden können. Am Ende könnte ein neuer Gerichtshof entstehen, wie es ihn beispielsweise auch für das ehemalige Jugoslawien gibt. Neela Winkelmann ist überzeugt von ihrem Ziel: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass es noch zu Anklagen kommt.“

Und vielleicht ist diese Hoffnung nicht ganz unbegründet. Vor wenigen Tagen wurde der ehemalige rumänische Kommandeur Alexandru Vișinescu (90) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Seine Strafe: 20 Jahre Haft.