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Gründerszene „Wir brauchen Gazellen“

Professor Matthias Raith von der Uni Magdeburg erläutert im Volksstimme-Interview, wo er Chancen für Startups aus Sachsen-Anhalt sieht.

Von Massimo Rogacki 24.07.2020, 01:01

Herr Raith, gibt es beim Gründen Unterschiede zwischen Ost und West?

Bundesweit gibt es Hotspots. Berlin sticht hervor. Es gibt aber auch Hotspots in Hamburg oder in Nordrhein-Westfalen. Brandenburg profitiert von der Nähe zu Berlin. In Dresden oder Leipzig gibt es Hotspots. Die alten Bundesländer haben Vorteile, weil dort stärkere Finanzierer ansässig sind. In Sachsen-Anhalt und in den ostdeutschen Ländern gibt es die nicht in dem Maße. Großunternehmen unterhalten dort Produktionsstätten. Forschung und Entwicklung ist häufig in den alten Bundesländern oder in Berlin angesiedelt.

In Ballungszentren wird laut Report mehr gegründet.

Das ist so. Es gibt dort eine gewachsene Infrastruktur und eine Gründungskultur. Denken Sie an das Gebiet Social Entrepreneurship. Berlin ist der absolute Hub. Alle treffen sich dort, unterstützen sich. Es gibt ein Netzwerk.

Ist die Nähe Sachsen-Anhalts zu Berlin förderlich?

Die Nähe ist nicht unbedingt vorteilhaft. Sachsen-Anhalter gründen, nur nicht immer im Land. Beispiel: IT-Bereich, viele müssen nur ihren Laptop zusammenklappen und machen dann im Hotspot Berlin weiter. Wir haben starke Gründungsideen in Sachsen-Anhalt. Es gibt eine gute Förderkultur. Aber junge Leute wollen auch da hin, wo es cool ist. Und da ist Berlin im Augenblick nicht zu toppen.

Die Vorstellung von Sachsen-Anhalt als erweiterte Peripherie von Berlin ist wohl etwas weit hergeholt?

Ich denke, derzeit ist diese Halbnähe noch nicht so förderlich. Klar. Der Weg von Berlin nach Sachsen-Anhalt ist nicht weit. Würden wir in amerikanischen Maßstäben denken, wären einige Städte hierzulande ein Vorort von Berlin. Genthin etwa ließe sich gut mit dem Zug erreichen.In Brandenburg gibt es auch Startups, die sich auf Bauernhöfen ansiedeln. Es kommt auch auf das Alter an. Nicht wenige schätzen es sicherlich , dass man hier eine Familie gründen und etwas günstiger ein Haus bauen kann.

Könnte es mehr Gründer geben?

Beispiel: Bei meinen Studierenden gibt es ein hohes Interesse daran, zu gründen. Im ersten Semester frage ich stets: Können Sie sich das vorstellen? Über zwei Drittel sind interessiert. Am Ende des Studiums sinkt das Interesse auf etwa zehn Prozent. Grund ist: Die Marktchancen steigen während des Studiums. Die Studierenden merken, dass sie gute Jobs in führenden Unternehmen bekommen, das Gründungsinteresse geht zurück. Auch, weil es mit einem Risiko verbunden ist.

Hat Halle gegenüber Magdeburg Vorteile?

Halle profitiert in jedem Fall von Leipzig. Magdeburg hat keine vergleichbare Stadt nebenan. Man muss zudem sagen: Nicht nur Sachsen-Anhalt strengt sich an, andere strengen sich auch an, attraktiv für Gründer zu sein.

Von einem Unternehmen wie Tesla, das sich in Brandenburg in der Nähe von Berlin ansiedelt, gehen Impulse aus?

Definitiv. Nehmen wir an, wir könnten es in Sachsen-Anhalt schaffen, sogenannte Gazellen – das sind Startups, die kurz davor sind, zu explodieren – anzusiedeln, dann würde einiges in Gang gesetzt. Eine entsprechende Szene würde sich ansiedeln.

Welche Funktion haben die Hochschulen?

Die sind immens wichtig. Sie sind die Hubs der kleinen Unternehmen, die sich Forschung und Entwicklung nicht leisten können. Damit die davon profitieren, braucht es einen guten Transfer. Wir müssen gut darin sein, den Transfer in die regionale Wirtschaft hinzubekommen. Das passiert in Sachsen-Anhalt schon in vielen Bereichen, etwa im Maschinenbau.

Wenn in Zeiten von Corona die Jobs in Unternehmen weniger attraktiv werden, begünstigt das Startups?

Wenn Unternehmen im großem Stile Entlassungen tätigen, macht das die Gründungsszene attraktiver. Die Startup-Szene ist derzeit stark gebeutelt. Positiv ist: Ich sehe deutschlandweit beeindruckende Unternehmenskonzepte. Denken Sie an Restaurants oder kleine Bäckerbetriebe, die einen Drive-Thru etabliert haben. Einige Firmen produzieren in dieser Situation Schutzmasken. Wenn die Wirtschaft wieder anfährt, erhoffe ich mir, dass wir nicht zum Business as usual zurückkehren. Wir müssen einen intelligenten Neuanfang schaffen. Gerade bei Nachhaltigkeit und sozialen Leistungen. In vielen der systemrelevanten Berufsgruppen sollte es Selbständigkeit geben, die von der Gesellschaft honoriert wird.

Meinen Sie, dass digitale und internetbasierte Gründungen weiterhin zulegen werden?

Das würde der Zeit entsprechen. Sie sollten aber auch an die Entwicklung der vielen sozialen und ökologischen Startups denken. Stichwort: Fridays for Future. Die jungen Leute sind gar nicht so scharf darauf, viel Geld zu verdienen, sie wollen die Gesellschaft verändern. Und sie möchten Probleme unternehmerisch anpacken. Ich kann mir vorstellen, dass daraus eine interessante Startup-Kultur erwächst.