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Grundschule Die Ausgezeichneten

In der Freien Grundschule Wernigerode türmen sich die eingegangen Anmeldeformulare. Aber warum?

Von Manfred Zander 17.04.2017, 06:00

Wernigerode l Am letzten Schultag vor den Osterferien mussten Schüler und Lehrer der Freien Grundschule Wernigerode ohne Schulleiter Reno Scherbaum und Musiklehrerin Simone Drebenstedt auskommen. Sie nahmen im hessischen Frankfurt den Europäischen Schulmusikpreis entgegen. Mit ihm würdigt die Society of Music Merchants Schulen und Lehrer, die mit neuen Ideen und großartigen Konzepten junge Menschen für das aktive Musizieren begeistern. Die Freie Grundschule Wernigerode – Träger ist die Fit-Ausbildungsakademie Magdeburg – gehört zu diesem Kreis.

Ein Tag zuvor. Die vierte Klasse hat gerade Pause. Die 22 Mädchen und Jungen sitzen rund um die lange Frühstückstafel im Klassenraum. Auf dem Tisch liegt, was Muttis und manchmal auch Vatis ihren Kindern mit auf den Schulweg geben. Belegte Brote, ein Stück Kuchen, vor allem aber viel Obst. Da haben die Eltern den kleinen Werbeflyer der Schule gut gelesen. Unter „Was uns wichtig ist“ nennt der als achten von zehn Punkten „gesunde Lebensweise“.

Emma, Lotta und Gina haben ihr Frühstück beendet. Nun unterhalten sie sich leise. Emma erzählt von ihrer Schwester Arya, die in ein paar Jahren „bestimmt“ auch in der Freien Grundschule lernen wird. „Meine Schwester Nora war schon hier“, sagt Gina. Sie habe ihr geraten, „auch hierher zu gehen“. Gina will ihrer jüngeren Schwester Mia den gleichen Tipp geben. Und auch Lotta berichtet ganz Ähnliches von ihren Schwestern Tracy und Julietta.

Kein Zufall. „Das Geschwister-prinzip ist eines der Kriterien, nach denen wir die Schüler auswählen“, erklärt Reno Scherbaum. Ausgewählt werden muss. Im Gründungsjahr gab es acht Schüler. Heute türmen sich die Anmeldungen auf dem Tisch des Schulleiters. Das sprengt die Möglichkeiten der Schule, die gerade Verstärkung für die siebenköpfige Lehrermannschaft sucht, eine Englischlehrkraft und eine Klassenleiterin.

Etwa jedem zweiten Bewerber muss abgesagt werden. „Wir gehen sehr verantwortungsvoll vor“, sagt Reno Scherbaum und verweist auf das Qualitätszertifikat der Schule. Wichtigstes Kriterium – neben der allgemeinen Schultauglichkeit des Kindes und dem Geschwisterprinzip – sei der Termin der Antragstellung durch die Eltern. „Am sichersten ist es, das Kind gleich nach der Geburt anzumelden“, lacht Scherbaum. Ein Scherz mit Hintergrund. „Für das Schuljahr 2023/24 liegen uns bereits drei Anmeldungen vor.“

Musikalische Begabung - was die jüngste Auszeichnung und die mit dem Echo-Klassik 2015 nahelegen könnte – ist kein Aufnahmekriterium. „Wir sind keine Musikschule“, sagt Scherbaum. „Aber wir setzen auf eine musikalisch-ästhetische Erziehung, weil wir glauben, dass wir dadurch gute Ergebnisse auch in anderen Fächern erreichen.“ Die Ergebnisse, etwa in der Mathe-Olympiade oder bei sportlichen Vergleichen, bestätigen seine Worte.

Bei Schulgründung stand die Bastian-Studie Pate. Der 2011 verstorbene Musikwissenschaftler, Musikpädagoge und Begabungsforscher Hans Günther Bastian hatte in einer Langzeitstudie an sieben Berliner Schulen die Entwicklung von Grundschulkindern mit verstärktem und mit normalem Musikunterricht verglichen. Die musikalisch stärker geförderten Kinder wiesen nach einiger Zeit bessere Werte auf, beispielsweise im Sozialverhalten und in der Konzentrationsfähigkeit.

Die vierte Klasse hat ihr Frühstück beendet. Mathematik bei Reno Scherbaum steht auf dem Plan. Die Schüler stehen im Kreis um die mittlere Bankreihe. Der Klassenleiter hält einen Stapel weißer Blätter in der Hand. Er reicht das erste Blatt an den Schüler links neben ihm. Der gibt es an seinen Nachbarn weiter. „Das ist ein Papier, das reich ich dir“, sprechen die Schüler im Chor, immer wieder, während Blatt für Blatt durch die Reihen wandert. Der Lehrer erklärt und lobt in einem: „Ihr habt jetzt gleichzeitig gesprochen und gehandelt. Das ist etwas Besonderes.“ Sagt‘s und erläutert an der Wandtafel die Aufgabe. Mit Hilfe des Zirkels soll ein Osterhase gezeichnet werden. Begeisterung sieht anfangs anders aus. Doch nach und nach füllen sich die Blätter mit zwei Kreisen für Kopf und Hasenkörper. Schwierig wird es, als der Osterhase die Ohren bekommen soll. Da passen die Zirkelschläge nicht immer sofort zueinander.

Dann ist Hofpause. Unterm Basketballkorb fliegen Bälle. Auf einem Hügel unterhalten sich Mädchen. Das Klettergerüst ist belagert. In einer Ecke wird gestritten. Zwei rote Köpfe rücken bedrohlich nahe. Tim aus der vierten Klasse mischt sich ein. Mit Worten. Schnell ist Frieden gestiftet, noch bevor die Lehreraufsicht eingreifen muss. Soziales Verhalten ist im Flyer als „Was uns wichtig ist“ genannt. „Jeder von uns hat einen Paten in der ersten Klasse“, erklärt Fynn. „Tim hat die Patenschaft über Paul“, sagt er weiter. Dann – mit einem fast unhörbaren Seufzer: „Ich für meine Schwester.“

Eine Wand im Treppenhaus ist mit einer lustigen C-Dur-Tonleiter geschmückt. Die Noten haben Gesichter, ein Geist steht für „g“, ein Affe für „a“. Das Bild ist mehr als Schmuck. Simone Drebenstedt erklärt: „Jede Stufe verwandelt sich im Spiel zur realen Tonstufe. Während eines Treppenspiels im Musikunterricht werden Töne gesungen oder geflötet, während einzelne Mitschüler die passenden Stufen finden. Auch umgekehrt werden die Tonabstände gefestigt, indem ein Schüler eine Melodie auf den Stufen läuft, und von Mitschülern sängerisch oder instrumental umgesetzt wird.“

Drei Stunden Musikunterricht hat jeder Schüler in der Woche. Geigenklasse und Chor sind Teil des Unterrichts. In der ersten Klasse wird mit dem urtümlichsten aller Musikinstrumente begonnen, der eigenen Stimme. Die drei Lehrkräfte bekommen dann häufig zu hören„Ich kann nicht singen“. Wenn dann der eine oder andere Brummer oder Unwillige zur eigenen Überraschung zum guten Sänger wird, macht das die Musikerzieher stolz.

„In der zweiten Klasse entscheiden wir mit Eltern und Schülern gemeinsam, welches Instrument für den Schüler infrage kommt, weiter Flöte oder Geigenklasse?“ Dank Landesförderung für die musikalisch-ästhetische Bildung stehen der Schule drei Kontrabässe, sechs Celli und 13 Geigen zur Verfügung. Manchmal sind Musikgrößen zu Gast. Auch Konzerte wie das Treffen der Geigenklassen in der Weimarhalle der Klassikerstadt sind Höhepunkte. Für Vorfreude sorgt der 31. Mai. Dann musizieren Streicherklasse und Chor gemeinsam mit Schülern des Landesgymnasiums für Musik um 16.30 Uhr in der Wernigeröder Liebfrauenkirche.

Jüngst ist der instrumentale Reichtum der Schule gewachsen. Eine große Zahl Klangröhren ist hinzugekommen. Schüler haben sie innerhalb des Projektes „(Um)wege zur Musiktheorie“ selbst gefertigt. Dem Klang eines Kanons folgend, kürzten sie Plastikrohre aus dem Baumarkt, bis sie mit ihnen die gewünschte Tonhöhe erzeugen konnten. Musiklehrerin Simone Drebenstedt hat das auf Video festgehalten. Nicht ganz uneigennützig, sollte der Film doch die Bewerbung um den Europäischen Schulmusikpreis untermauern. Mit Erfolg, wie seit acht Tagen feststeht. „Das Projekt“, urteilte die Jury, „besticht durch eine gute und schlüssige Verknüpfung von Musiktheorie und Musikpraxis, die den Kindern ein eigenständiges Arbeiten ermöglicht ... Besonders hervorzuheben ist der hörend geleitete Instrumentenbau, der die Jury überzeugt und beeindruckt hat.“

Die 4000 Euro Preisgeld muss dem Musikunterricht zugutekommen, fordert der Preisstifter, etwa durch neue Musikinstrumente. Simone Drebenstedt hat gewiss schon Ideen. „Da bin ich mir ganz sicher“, schmunzelt Schulleiter Scherbaum.