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Halle-Attentäter Stolpert Ministerin über Chaos-Knast?

Nach dem Fluchtversuch des Halle-Attentäters erhebt Sachsen-Anhalts Justizministerin Vorwürfe gegen die Leitung der JVA Halle.

Von Michael Bock 09.06.2020, 23:27

Magdeburg l Stephan B. konnte sich am 30. Mai exakt 43 Minuten unbeaufsichtigt auf dem Gelände des Gefängnisses Roter Ochse bewegen. Das geht aus einem am Dienstag von Keding vorgestellten Sachstandsbericht hervor. Diese Zeit nutzte der 28-Jährige für den Fluchtversuch über einen 3,40 Meter hohen Zaun. Ein Erlass des Ministeriums sieht vor, dass B. außerhalb seiner Zelle jederzeit von drei Wächtern beaufsichtigt wird. Die JVA Halle habe aber „eigenständig“ die Sicherheitsverfügung des Ministeriums gelockert, hieß es.

An jenem Pfingstsamstag gab es eine Reihe von Pannen und Schlampereien. Begünstigt wurde der Fluchtversuch durch einen technischen Defekt. Dieser führte dazu, dass die Wächter, die B. über Sicherheitskameras hätten bewachen sollen, abgelenkt waren. Ein Wandvorsprung ermöglichte die 26-Sekunden-Flucht über den Zaun. Bemerkenswert: Laut Ministerium wurde dieser Zaun nicht zum ersten Mal von Gefängnisinsassen überwunden. B. versuchte zunächst, einen Kanaldeckel anzuheben. Als ihm das nicht gelang, spazierte er unbehelligt zu einem nahegelegenen Transportgebäude. Nächste Peinlichkeit: Die Eingangstür stand offen. B. passierte die leeren Gefangenen-Warteräume, um dort einen Fluchtweg zu finden. Erfolglos. Die Fenster sind vergittert. Eine reale Fluchtgefahr habe zu keinem Zeitpunkt bestanden, beteuerte Keding. Erst nach 40 Minuten wurde das Verschwinden von B. bemerkt. Kurz danach wurde er auf dem Hof aufgegriffen.

Öffentlich bekannt wurde gestern auch, dass im Februar strenge Auflagen gelockert wurden. So musste B. beim Aufenthalt im Freien keine Handfesseln mehr tragen. Warum das? Er habe sich in der bisherigen Haft „unauffällig und angepasst verhalten“, sagte Keding.

Die Bundesanwaltschaft wirft B. zweifachen Mord und 68-fachen Mordversuch „aus einer antisemitischen, rassistischen und fremdenfeindlichen Gesinnung heraus“ vor. Er hatte am 9. Oktober vorigen Jahres schwer bewaffnet versucht, in die gut besuchte Synagoge in Halle einzudringen. Als das misslang, erschoss er zwei Menschen in der Nähe. Keding sagte, sie bedaure zutiefst, dass es zum Fluchtversuch gekommen sei. Dies habe auch dem Ansehen des Justizvollzugs geschadet. Die oppositionelle Linke forderte Keding zum sofortigen Rücktritt auf. Bedienstete würden Erlasse der Ministerin nicht umsetzen. Die Folge sei ein verheerender Autoritätsverlust. Auf die Frage, ob sie sich in der politischen Verantwortung für den Vorfall sehe, sagte Keding: „Selbstverständlich. Dafür stehe ich gerade.“

Erst auf Nachfrage teilte das Ministerium gestern zudem mit, dass es bereits im April zu einer Schlägerei in der JVA Halle gekommen sei. Der Vorfall werde nun geprüft.