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Hirnforschung Wie Körper und Geist zusammenhängen

Die Magdeburgerin Esther Kühn wurde für ein Forschungsprojekt zum Thema Körpergedächtnis mit einem hochdotierten Preis ausgezeichnet.

Von Alexander Walter 30.09.2020, 01:01

Magdeburg l Ein Mann wacht mitten in der Nacht hustend auf – immer und immer wieder, über Wochen, Monate. Die Ärzte können keine organische Ursache feststellen, so genau sie den Patienten auch untersuchen. Er scheint kerngesund.

Erst eine Psychotherapie führt die Mediziner später auf die richtige Fährte: Der Hustende wäre einst, in Kinderjahren, fast in einem See ertrunken. Die nächtlichen Hustenattacken – sie sind in Wahrheit eine Angstreaktion des Gehirns. Unbewusst spielt der Körper das verschüttete Trauma wieder und wieder durch.

Der Fall ist ein typisches Beispiel dafür, wie Erfahrungen sich in das Körpergedächtnis eines Menschen einbrennen und noch Jahre später zu psychosomatischen Symptomen führen können, sagt Esther Kühn.

„Wenn man verstanden hat, wie Körpererinnerungen gespeichert werden, kann man versuchen diese zu modifizieren.“

Esther Kühn, Gehirn-Forscherin und Gewinnerin des ERC „Starting Grant“

Kühn – eine schlanke Frau mit langem, braunem Haar – sitzt an diesem Septembernachmittag in einem Besprechungsraum im Magdeburger Standort des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), einem modernen Neubau auf dem Gelände des Magdeburger Uniklinikums.

Auch wenn die Geschichte Betroffener längst nicht immer so spektakulär ist, der Mechanismus ähnelt sich: Oft schmerzt ein Arm lange nach einem Bruch und der Betroffene glaubt an Behandlungsfehler. „Oder Patienten packt auch Jahre nach einem überwundenen Herzinfarkt die nackte Angst, nur weil sich ihre Pulsfrequenz erhöht“, sagt Esther Kühn. Andere haben Depressionen oder Angstzustände. Das Phänomen reicht sogar noch weiter: Nach Statistiken geht etwa die Hälfte aller Hausarztbesuche auf nicht organische Ursachen zurück, so die Forscherin. In vielen Fällen vermutet Kühn die Ursache für Symptome auch hier in negativ geprägten Körpererinnerungen.

Schon seit früher Jugend ist die 37-Jährige davon fasziniert, wie die Biologie psychische Prozesse erklären kann, oder wie sie sagt: „... wie Körper und Geist zusammenspielen.“

Ihre Leidenschaft hat die Forscherin dabei schon jetzt weit gebracht: Biologie-Studium in Münster, Masterabschluss in Neurowisssenschaften in Neuseeland und Berlin, Promotion am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig, Postdoktorandenstelle in London.

Am DZNE in Magdeburg stößt die aus Hürth bei Köln stammende Biologin nun in eine bislang weitgehend offene Forschungslücke: Als Leiterin einer Forschungsgruppe am Institut für kognitive Neurologie und Demenzforschung (IKND) will sie herausfinden, wie genau sich Körpererinnerungen in die neuronalen Netzwerke des Gehirns schreiben. „Bislang werden Denkprozesse zu oft noch in einfachen Schemata erklärt“, sagt Kühn, die als Neurowissenschaftlerin zugleich für die Medizinische Fakultät der Uni Magdeburg forscht. Beim Erfassen der Differenziertheit der Vorgänge stecke die Forschung nach wie vor in den Kinderschuhen.

Die 37-Jährige will das ändern. Mit ihrem Projekt „BodyMemory“ hat sie sich um eine Förderung des Europäischen Forschungsrats (englisch: European Research Council; ERC) beworben.

Und sie hat die Jury beeindruckt: Vor wenigen Tagen wurde Kühn – wie zwei weitere Wissenschaftler in Sachsen-Anhalt – mit dem mit 1,5 Millionen Euro dotierten, höchsten europäischen Forschungspreis für Nachwuchswissenschaftler, dem „ERC Starting Grant“, ausgezeichnet (zu den anderen beiden Preisträgern: siehe unten).

Welche Bedeutung der Preis hat, deutete Wissenschaftsminister Armin Willingmann (SPD) nach der Bekanntgabe an: „Der ERC-Grant steht für Pionierforschung der Extraklasse“, sagte er. „Ich freue mich sehr, dass in diesem Jahr gleich drei der begehrten Auszeichnungen nach Sachsen-Anhalt gehen.“ Esther Kühn kann dank der Förderung nun fünf Jahre lang unabhängiger forschen. Natürlich hat die Wissenschaftlerin dabei bereits eine Idee, wie das mit dem Abspeichern von Körpererfahrungen funktionieren könnte.

Ihre These: Die Verknüpfung von Gedächtnisinhalten kann man sich vorstellen wie eine Landkarte. Körpererfahrungen werden an einem bestimmten Ort abgespeichert, andere Erfahrungen an anderen Orten. Stets stehen sie über Vernetzungen aber in Relation zueinander. Änderungen an einem Inhalt könnten so auch andere Inhalte beeinflussen und umgekehrt. Das gilt beispielsweise für Schmerzen, aber auch die emotionale Komponente von Erinnerungen.

Dafür, dass das tatsächlich so sein könnte, spricht, dass der Ort der Erinnerung, der „Hippocampus“ im Gehirn direkt neben dem entwicklungsgeschichtlich älteren Zentrum für Gefühle wie Angst, der sogenannten Amygdala, liegt.

„Wenn man verstanden hat, wie Körpererinnerungen gespeichert werden, kann man auch versuchen, diese zu modifizieren“, ergänzt Kühn. Die Grundlage für wirksame Therapien zu liefern, ist dann auch das Fernziel ihrer Arbeit. „Wir denken hier in Richtung Traumatherapie“, sagt sie. Zwar arbeite die Psychotherapie bereits heute erfolgreich zu negativen Erfahrungen. „Man weiß aber oft nicht, warum eine Therapie funktioniert.“

Anders als in der viel älteren Disziplin Medizin fehle es in der Pyschologie häufig einfach noch an empirischen Daten.

„Der ERC-Grant steht für Pionierforschung der Extraklasse.“

Wissenschaftsminister Armin Willingmann (SPD)

Um ihre Thesen zu bestätigen, will die Forscherin jetzt mit Hilfe hochmoderner Technik, wie einem 7-Tesla-Magnetresonanztomographen (MRT) am DZNE, tief ins Innerste des Gehirns ihrer Probanden schauen.

Die Teilnehmer, oft Patienten mit Körpererfahrungen, werden während des Projekts beispielsweise alte Erfahrungen an Simulatoren virtuell erneut durchspielen – diesmal allerdings ohne das einst traumatisierende Erlebnis. Vernetzungen mit negativen Gefühlen oder Schmerzen könnten so positiv überschrieben oder neu geknüpft werden, sagt Kühn. Im Ergebnis würde beispielsweise das nächtliche Husten wie beim Patienten eingangs dank Therapie im Idealfall verschwinden.

Magdeburg hat Esther Kühn als Standort für ihre Forschung übrigens nicht zufällig gewählt: Ausstattung und Profil der Stadt mit dem DZNE oder dem Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) mit Geräten, wie dem 7-Tesla-MRT, seien bundesweit herausragend, sagt die Forscherin. „Manchmal weiß ich gar nicht, ob die Magdeburger sich dessen bewusst sind, sie können stolz darauf sein“, ergänzt sie.

Vielleicht ändert Kühns Forschung am Ende ja auch an der Selbst-Wahrnehmung der Magdeburger etwas.