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Horno, Heuersdorf, Großgrimma – wo Kohle lagert, sterben Dörfer

Von Winfried Borchert 11.12.2012, 09:33

Lützen ● "Betreten und Befahren verboten. Mibrag" steht auf dem
gelben, halb zugewachsenen Schild an der Landstraße von Lützen nach Hohenmölsen im Burgenlandkreis. Wer es übersieht und in die Sackgasse einfährt, wundert sich über die Feuerwehrgarage in der Landschaft, zwei marode Wohnhäuschen und die alte Schmiede. "Firma
Hillert - 100 Jahre im Dienst des Kunden" steht in abblätternden
Buchstaben daran. Das einzige, was von Großgrimma übrig blieb.

Die Kirche auf dem Hügel ist verschwunden. Unter der riesigen Eiche, wo sich Generationen von Bewohnern trafen, um zu reden, zu streiten oder den ersten Kuss auszutauschen, laufen höchstens ein paar Gänse herum. Ein Kleinlandwirt ist der letzte Bewohner, bis 2017 muss auch er dem Tagebau Profen weichen. Dann kommen die Bagger.

Horno in Brandenburg, Heuersdorf in Sachsen, Großgrimma in Sachsen-Anhalt – drei Dörfer, die berühmt wurden, als sie verzweifelt um ihre Existenz kämpften. Und am Ende verloren. "Wir reden hier über die bewusste Vernichtung jahrhundertealter Kulturgüter, die Zerstörung einer Dorfgemeinschaft, Vertreibung von Menschen. Das hat es hier zuletzt im Dreißigjährigen Krieg gegeben", sagt Dorothee Berthold. Ihr Vater war einst Pfarrer in Großgrimma, 1968 zog die Familie nach Lützen um. Heute wohnt die Apothekerin in Michlitz bei Lützen, das mit sechs anderen Dörfern ebenfalls vom Bagger bedroht ist.

"Devastierung" (lateinisch: weit, öde, leer) heißt der Fachbegriff, wenn ein Ort aufgegeben, leergezogen und eingeebnet wird. Seit Beginn des industriellen Braunkohleabbaus vor gut 100 Jahren fielen in Deutschland 312 Orte den Baggern zum Opfer, knapp 110 000 Menschen verloren ihre Heimat. Der Großteil von ihnen, fast 80 000, in 270 Dörfern der DDR, wo die Braunkohle der Hauptenergieträger war.

Nach der Wende schöpften etliche, vom Abriss bedrohte Örtchen
Hoffnung, dass es mit der Braunkohleindustrie und ihrem Hunger auf Landschaft vorbei sei. Doch internationale Energiekonzerne kauften die DDRKohlekombinate und mit ihnen die Abbaurechte an den riesigen unterirdischen Lagerstätten. Ganz gleich, ob uralte Kirche oder schickes Eigenheim – wenn sich für ein Unternehmen der Kohleabbau lohnt, muss alles weg, auf den Abfallhaufen der Geschichte. Nur eine knappe finanzielle Entschädigung steht Hausbesitzern zu.

Die Ursache dafür liegt im deutschen Bergrecht und dessen Wurzeln im Mittelalter. Da sicherten sich die adligen Herrscher alle Vorkommen an Gold, Silber und anderen unterirdischen Werten. In den 1930er Jahren brauchte der Nazistaat den Zugriff auf Kohle und Erze für seine Kriegsvorbereitung. Und selbst das 1982 nach der zweiten Ölkrise beschlossene Bundesberggesetz beschneidet bis heute die Rechte von Grundstückseignern.

"Im Gegensatz zur europäischen Praxis wird jeder Grundbesitzer
in Nordamerika an Bergbauerlösen beteiligt", sagt Jeffrey Michel. Der 69-jährige Entwicklungsingenieur aus New Orleans lernte vor der Wende auf Fahrten nach Westberlin die DDR kennen, knüpfte Kontakte zu Umweltaktivisten; beobachtet von der Staatssicherheit. 1500 Seiten hat seine Stasi-Akte. Nach der Wende zog Michel für zehn Jahre als Energieberater ins bedrohte Heuersdorf. Er erlebte dort, wie die Dorfbewohner erst gegen die Pläne der Mitteldeutschen
Braunkohlengesellschaft (Mibrag) vor Gericht zogen und später unter politischem Druck aufgaben. Zornig sei er, dass unter jenen, die nach der Wende als Manager für das Abbaggern von Dörfern verantwortlich zeichneten, auch einstige Stasileute waren. Und dass dies keinen Politiker störte.

Im Gegensatz zu anderen hatten die Bewohner von Großgrimma Glück. Viele blieben Nachbarn, in Hohenmölsen, in der Siedlung "Am Südhang". Die Mibrag ließ dort Häuser bauen. "Ich komme hier gut aus. Meine Wohnung ist im Erdgeschoss", sagt die 80-jährige Adelheit Freyer, die vier Jahrzehnte Jahre in einer Brikettfabrik arbeitete. An was denke sie, wenn sie auf ihr Heimatdorf zurückblickt? Sie holt tief Luft. "So wie in Großgrimma ist es hier freilich nicht. Das war ja eine richtige Familie." Aufgegeben haben sie sich in Lützen und Umgebung noch nicht. Zeit gewinnen, Aufmerksamkeit erzeugen für die Schattenseite der Braunkohle, auf Alternativen dringen, heißt ihre Devise. In zwei Jahren will die Mibrag entscheiden, ob sie bei Profen ein neues Kohlekraftwerk baut, den Tagebau erweitert und weitere Dörfer wegbaggert. Ob das Kraftwerk gebraucht wird, weiß heute niemand.

Dorothee Berthold blickt auf den neuen Solarpark bei Lützen, der bis zu 600 Haushalte mit Strom versorgen kann. Sie sagt: "Die Zeit arbeitet für uns."