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Interview Keine Belehrungen für den Osten

Norbert Röttgen will CDU-Chef und Kanzler werden. Mit seiner überraschenden Kandidatur überrumpelte er das Bewerberfeld.

Von Steffen Honig 28.02.2020, 00:01

Berlin l Röttgen war Bundesumweltminister und leitet den Auswärtigen Ausschuss des Bundestages. Mit dem CDU-Politiker sprach in Berlin Steffen Honig.

Volksstimme: Ein Kompetenzteam für CDU-Spitze und Kanzlerkandidatur ist vom Tisch. Es gibt derzeit ein Dreierfeld mit Friedrich Merz, Armin Laschet und Ihnen. Glauben Sie, dass noch mehr einsteigen?
Norbert Röttgen: Nein, damit rechne ich nicht. Das werden diejenigen sein, die auf dem Parteitag kandidieren. Ich denke, wir müssen die Personalfrage mit einer inhaltlich-strategischen Debatte über die CDU und das, was die Partei will, verbinden. Wir haben drei Kandidaten mit unterschiedlichem Profil im Angebot. Das finde ich gut.

Friedrich Merz macht klare Law&Order-Ansagen, Armin Laschet bügelt glatt, wo es geht. Wo ordnen Sie sich ein?
Meine zentrale Botschaft beinhaltet, dass die CDU nur als eine Partei der Mitte denkbar ist. Diese braucht Grenzen nach rechts und links, sonst ist sie keine Mitte. Die Mitte muss zudem innerhalb dieser Grenzen neu definiert werden.

Wie lautet diese Definition?
Diese moderne Mitte muss die Menschen in ganz Deutschland, die verschiedenen Generationen, in Stadt und Land und die Geschlechter ansprechen. Wir sind nur dann Mitte, wenn wir diesen breiten Anspruch haben. Die Mitte muss die Frage klären, warum die Ränder so stark geworden sind. Meine Antwort: Weil sich zu viele Menschen von der Politik im Stich gelassen fühlen.

Wir dürfen nicht erst beginnen zu handeln, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist und die Politik nur noch machtlos wirkt. Die Themen unserer Zeit brauchen andere Antworten als in den 70er Jahren. Da ist das Chaos in der Welt, das uns bedroht. Darum geht Außenpolitik heute jeden Bürger etwas an. Hinzu kommt die Klimafrage. Wenn die CDU keine Partei wird, die auf diesem Gebiet kompetent ist, werden wir in Großstädten und darüber hinaus weiter Ergebnisse wie in Hamburg einfahren.

Klimakompetenz macht sich an der Energiewende fest. Diese läuft, wenn auch stockend.
Wir dürfen eben nicht die Fehler der vergangenen Jahre wiederholen. Wenn man eine solche Generationenaufgabe wie die Energiewende angeht, dann muss man eine Generation lang konsequent am Ball bleiben und darf nicht auf der Strecke das Interesse verlieren. Dann kann aus der Energiewende ein ganz großes Innovationsprojekt werden.

Würden Sie bei Fridays for Future mitmarschieren?
Nein.

Warum nicht?
Schon deshalb nicht, weil ich Politiker bin und daher das Privileg habe, als solcher handeln zu dürfen. Ich kann schlecht auf die Straße gehen und mich selbst auffordern, etwas zu tun. Kein Zweifel: Fridays for Future und Greta Thunberg als einzelner Mensch haben enorm viel bewegt. Ich würde den Demonstranten sagen: Ihr setzt euch für die richtigen Ziele ein. Das ist aber in der Politik nicht alles, sondern es wäre toll, wenn ihr auch anfangt, über die Wege zu reden, wie man das Ziel erreicht – sozial, technologisch, ökonomisch.

Sie wollten mit Ihrer Bewerbung eine schnelle Entscheidung über den Vorsitz, aber Angela Merkel soll bis 2021 Kanzlerin bleiben. Sowohl Herr Merz als auch Sie gelten nicht als enge Merkel-Vertraute. Ist das überhaupt vorstellbar?
Als Annegret Kramp-Karrenbauer gewählt wurde, waren es theoretisch noch zweieinhalb Jahre mit einer Doppelspitze. Jetzt haben wir noch ein gutes Jahr und davon ab Juli für ein halbes Jahr die deutsche EU-Ratspräsidentschaft.

Dann kommt der Wahlkampf. Ich bin davon überzeugt, dass das Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein sowohl von Frau Merkel als auch von mir so groß ist, dass wir wissen, dass Frau Merkel als Regierungschefin ihre Verantwortung bis 2021 wahrnimmt. Der neue Parteivorsitzende muss die Vorbereitungen für den Wahlkampf und die Zeit nach 2021 treffen. Auf dieser Basis der Arbeitsteilung kann man sehr gut zusammenarbeiten.

Ein Seitenblick auf Ihre Schwesterpartei CSU. Glauben Sie, dass der Kanzlerkandidat der Union aus der CSU kommt oder nicht?
Ich denke, dass derjenige, der Ende April CDU-Vorsitzender wird, so viel Autorität hat, dass er gleichzeitig der CDU-Vorschlag für die Kanzlerkandidatur sein wird. Dann werden wir uns mit der CSU auf einen Kandidaten verständigen. 

Sie fordern neue Inhalte, die CDU bastelt bereits geraume Zeit an einem neuen Grundsatzprogramm. Wie lässt sich das verbinden?
Das Grundsatzprogramm ist das Skelett der Partei für ein paar Jahrzehnte. Was wir jetzt brauchen, ist sozusagen das Fleisch am Knochen für das kommende Jahr.

Muss die CDU konservativer werden?
Das Wort „Konservatismus“ wäre eine Verengung. Es geht darum, an den Werten, die die Zeit überdauern, festzuhalten und aus ihnen auf neue Fragen neue Antworten abzuleiten. Das ist nicht links/rechts oder konservativ/progressiv. Wir müssen modern sein, indem wir uns den Veränderungen stellen, vor allem auch, um zu bewahren.

Ihre sachliche Art bringt Ihnen bisweilen den Vorwurf mangelnder Volksnähe ein. Wie sehen Sie das?
Ich denke, die Wahrnehmung ist stark davon geprägt, in welchen Rollen ich gesehen werde. In den vergangenen Jahren nahm ich als Außenpolitiker vorrangig eine erklärende Rolle ein, da ich den Menschen außenpolitische Zusammenhänge darlegte. Ich komme aus einer kleinen Stadt und wohne auf dem Land. Ich habe inzwischen sieben Mal meinen Wahlkreis direkt gewonnen, in engem Kontakt mit den Leuten. Seit 25 Jahren bin ich verheiratet, wir haben drei Kinder. In dieser Rolle sieht mich aber keiner. Meine Lebenserfahrung besteht jedenfalls sehr viel aus ganz normalen Dingen.

Die scharfe CDU-Debatte um die politischen Ränder wird im Osten weniger verstanden als im Westen. Die Linke regiert in Ländern mit und hat das System nicht zerrüttet. Bei der AfD kann einem angst werden, sollte sie in Verantwortung kommen. Wo liegt für Sie die jeweilige Distanz?
Wir müssen über die AfD und über die Linkspartei völlig unterschiedlich reden. Bei der AfD müssen wir noch viel stärker betonen, wie sehr sie die Sprache der Nazis wieder in die Öffentlichkeit bringt, wie sie direkt oder unterschwellig die Würde und die Sicherheit einzelner Menschen oder Gruppen angreift.

Die AfD träufelt Gift in unsere Gesellschaft ein. Sie liefert Rechtsextremen oder Verrückten das Material, um gewalttätig zu sein. Wir brauchen hier eine viel stärkere Antwort der Parteien und des Staates. Darum ist eine Zusammenarbeit völlig undenkbar. Auch eine mittelbare Kooperation wie in Thüringen war ein schwerer Fehler.

Und was trennt die CDU von den Linken?
Die Linkspartei ist völlig anders. Die Linke im Osten ist zunächst eine andere als die im Westen, die im Wesentlichen aus den westdeutschen Alt-Kommunisten besteht, die für Sozialismus, gegen soziale Marktwirtschaft und Nato waren und sind. Die Partei hat ganz andere Kerngrundsätze als wir.

Die CDU war immer gegen Sozialismus und für soziale Marktwirtschaft und immer für die Nato. Außerdem wendet sich die Linkspartei ganz bewusst nicht gegen den Linksextremismus. Darum ist auch die Abgrenzung nach links für die CDU ganz entscheidend. Dann wissen die Leute auch, woran sie bei uns sind. Man muss das nicht gut finden. Wenn wir aber nach links offen wären wie SPD oder Grüne, würde wieder ein Unterscheidungsmerkmal zwischen diesen Parteien und der CDU verschwinden. So sind wir aber, und wir müssen dazu stehen, wie wir sind.

Gehört die Linkspartei für Sie zum demokratischen Spektrum?
Ich würde das nicht uneingeschränkt bejahen, weil die Linke sich klar von ihrem linksextremen Umfeld trennen müsste. Was sie nicht tut.

Sie haben betont, dass Sie Ost und West auf Augenhöhe betrachten. Nun sollte das 30 Jahre nach der Wiedervereinigung selbstverständlich sein.
Sie haben recht: Wir sind seit 30 Jahren vereint. Daraus sollten wir endlich mal Konsequenzen ziehen. Deshalb sind die östlichen Bundesländer für mich nicht mehr die „neuen Länder“. Das gemeinsame Deutschland sollten wir so betrachten, dass wir im ganzen Land Strukturprobleme haben. Immer mehr Menschen ziehen in die Zentren wie nach Leipzig oder München, während wir in anderen Regionen fast schon Entvölkerung haben.

Auch im Westen gibt es Gegenden, in denen so wenig Menschen leben, dass das Angebot an öffentlichen Leistungen so gering ist, dass die Bewohner das Gefühl haben, abgeschrieben zu sein. Fangen wir an, über manches als deutsche Probleme und nicht als ostdeutsche Probleme zu sprechen! Schließlich müssen wir realistisch aussprechen, dass sich Wahlverhalten, Einschätzungen und Einstellungen zwischen Ost und West zunehmend auseinanderentwickeln. Das betrifft vor allem die AfD und die Linkspartei in ihrer Stärke im Osten gegenüber dem Westen. Das rechtfertigt aber keinen belehrenden Ton über Demokratie aus Richtung Westen oder der restlichen Republik. Diese Belehrungen des Ostens sind inakzeptabel.

Signifikant für die Unterschiede ist das Thema Migration. Der Westen hat hier einen langen Vorlauf, der Osten wurde 2015 förmlich überollt.
Wir müssen viel mehr darüber reden und uns klarmachen, dass Migration einer der großen Trends unserer Zeit ist. Sie resultiert vor allem aus dem riesigen Gefälle zwischen Arm und Reich auf dieser Welt. Jeder hat ein Handy und weiß, wo das vermeintliche Paradies liegt, und jeder weiß durch Google Maps, wie er dorthin kommt. Der neue Unfrieden in der internationalen Politik tut sein Übriges: Wir sehen das gerade im syrischen Idlib, wo wieder fast eine Million Menschen auf der Flucht sind. Darüber muss offen und ehrlich geredet werden. Wenn das nicht passiert und man die Menschen bei uns mit den Resultaten alleinlässt, entsteht das, was entstanden ist.

Sie gelten als entschiedener Kritiker der gegenwärtigen russischen Politik. Wie kann man den großen Nachbarn wieder an den Tisch holen?
Das Verhältnis des Westens und Deutschlands zu Russland ist festgefahren. Das, obwohl die Deutschen ein gutes Verhältnis zu Russland haben wollen und umgekehrt. Dieses ist historisch begründet, hat auch mit Kultur und Emotion zu tun. Ich teile das. Aber Wladimir Putin hat – auch durch Fehler des Westens in der Ukraine-Politik – dann eine Politik betrieben, die ich zu diesem Zeitpunkt nicht für möglich gehalten habe.

Er hat sich entschieden, aus der europäischen Friedensordnung auszutreten, und hat militärische Gewalt entgegen internationalem Recht eingesetzt, um seine Ziele zu verfolgen. Das hat er in der Ukraine begonnen und setzt es in Syrien fort. Aktuell werden in Idlib aus russischen Flugzeugen Zivilisten bombardiert, damit sie fliehen und Assads Truppen vorrücken können. Dem muss man eine starke politische Antwort entgegensetzen. Wenn das Schule macht, gehen wir noch unfriedlicheren Zeiten entgegen.

Innerhalb der EU geht zwischen Berlin und Paris kaum noch etwas. Was würden Sie als Außenpolitiker sofort ändern?
E
uropa braucht nicht mehr Reden, sondern Ergebnisse. Sie müssen den Bürgern zeigen, dass Europa einen Mehrwert hat. Bei der Münchener Sicherheitskonferenz konnte ich in einem kleinen Kreis darüber mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron sprechen. Ich teile seine Meinung, wenn er sagt, dass wir den 5G-Standard im Internet gemeinsam europäisch ausbauen sollten. Auch bei der Stärkung des Euros stimme ich ihm zu. Denn wir sind den an den Dollar geknüpften US-Sanktionen ausgeliefert. Deshalb müssen wir den europäischen Finanzmarkt stärken.

Ich schlage vor, einen Anfang zu machen, indem eine kleinere Gruppe europäischer Staaten gemeinsam in der Außenpolitik zusammenarbeitet. Franzosen, Deutsche und Briten sollten sich zwei, drei Themen vornehmen und sie gemeinsam angehen. Den Mittleren Osten oder China etwa. Dabei sollten sie offen für die Mitarbeit weiterer EU-Staaten sein. Vor allem sollten die drei auf Polen zugehen und das Land für ein Quartett gewinnen. Dies würde ausdrücken, dass es keine neue Ost-West-Spaltung innerhalb Europas geben soll, sondern die Mitwirkung des führenden osteuropäischen Staates nötig ist. Gelänge dies, könnten wir vor die Bevölkerung treten und sagen: Wir haben etwas erreicht.

Braucht Europa eine stärkere eigene Verteidigungspolitik?
Ja. Selbst wenn Donald Trump nicht wieder gewählt werden sollte – sein Nachfolger würde dabei bleiben, dass die USA nicht wie früher Weltpolizist spielen wollen. Wir müssen als Europäer wie ein Erwachsener mehr für uns sorgen. Wir müssen mit den USA partnerfähig werden. Das sind wir derzeit nicht.