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Fettleibigkeit Kampf eines Magdeburgers gegen die Waage

Sachsen-Anhalts Mediziner beklagen zu viele dicke Kinder. Christopher Müller aus Magdeburg gehörte einst dazu. Er kämpfte gegen die Waage.

Von Janette Beck 03.05.2019, 01:18

Magdeburg l Wie viele ihrer Kollegen macht sich auch Petra Beye angesichts aktueller Zahlen und Studien Sorgen um Sachsen-Anhalts Kinder: „Zu viele davon sind einfach zu dick.“ Die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin spricht aus Erfahrung. Sie ist spezialisiert auf die Betreuung von Kindern und Jugendlichen mit Adipositas (Fettleibigkeit) und endokrinologischen Erkrankungen.

Für besonders schwere Fälle bietet sie im Klinikum Magdeburg eine Spezialsprechstunde für Betroffene und ihre Eltern an. „Gefühlt werden es immer mehr, die meine Sprechstunde aufsuchen. Das betrifft vor allem stark adipöse Kinder und Jugendliche. Unsere Kapazitäten sind längst erreicht, die Wartezeit beträgt inzwischen drei Monate. Um die 20 Patienten sind es jede Woche, die im Wartezimmer sitzen.“

Wartezimmer ist ein gutes Stichwort. Da sitzt Christopher Müller und strahlt seine ehemalige Ärztin beim Wiedersehen an. Und das macht auch ihr sichtlich Freude, denn der 22-Jährige ist gertenschlank und wirkt hier völlig fehl am Platz. Das war nicht immer so. Denn als Kind und Jugendlicher schleppte der Magdeburger jede Menge überflüssige Pfunde mit sich herum. Bis er mit der Diagnose „Adipositas“ zur Spezialistin Dr. Beye überwiesen wurde. „Wie oft habe ich hier gesessen?!“, erinnert er sich. „Mit schlechtem Gewissen und Angst vor dem Gang ins Arztzimmer.“ Er wusste ja, was ihn erwartet: Die Stunde der Wahrheit. „Zuerst Messen, danach Wiegen. Oft kam dann das böse Erwachen.“

Doch wie konnte es nur so weit kommen, wo er doch so gar nicht danach ausschaut, als sei ihm ein Gewichtsproblem in die Wiege gelegt worden?

„Das frage ich mich auch, wenn ich die Kinder- und Jugendbilder sehe. Krass! Ich war nicht nur moppelig, sondern richtig dick. Alles sinnlos angefutterter Speck. Heute kann ich nur den Kopf darüber schütteln und lachen.“

Bei der Geburt lag der Magdeburger mit 3200 Gramm und 49 Zentimetern im Normalbereich. Doch schon bald ging es in die verkehrte Richtung: „Meine Mutter hat immer gerne für uns gekocht. Deftig und gehaltvoll. Abends gab es oft eine warme Mahlzeit.“ Er selbst sei von klein auf ein guter Esser und Verwerter gewesen. Egal. „Wenn‘s schmeckt: Immer rein damit!, war mein Motto.“ Vor allem von Süßigkeiten konnte er nicht die Finger lassen: „Unser Nasch-Fach daheim war immer gut gefüllt.“

Was im Kita-Alter noch als drollig durchging und vom Umfeld mit der Floskel „Das verwächst sich noch“ abgetan wurde, wurde im Grundschulalter zum Problem. „Ich wurde immer öfter gehänselt, weil ich zu dick war“, blickt der jetzige Master-Student auf den Beginn einer scheinbar nie enden wollenden Mobbing-Zeit zurück. „Kinder können echt grausam sein.“

Eine Szene hat sich tief eingebrannt bei ihm: „Nachbarjungs haben bei uns geklingelt und mich gefragt, ob ich mit Fußballspielen wolle. Ich hatte mich tierisch gefreut. Doch am Ende stellten sie mich nur ins Tor, um mir die Bälle um die Ohren zu dreschen. Zum Abschuss freigegeben. Todtraurig ging ich nach Hause.“

Vor allem der Sportunterricht war für ihn der Horror. Schon beim Ausziehen fürchtete er Blicke der anderen. Kam er dann nicht die Stange hoch, war das Gelächter groß. Bei Ballspielen war „Dicki“ die letzte Wahl. Im Gymnasium ging das Mobbing weiter. Der Teenager fraß buchstäblich alles in sich rein. Das Ganze endete in einem Teufelskreis: „Ich war oft traurig, fühlte mich isoliert und alleingelassen. Ich zog mich zurück, ging kaum noch raus.“ Auf dem Weg von der Schule nach Hause kaufte er sich zwei Tafeln Schokolade. Daheim angekommen, waren sie bereits weggefuttert. Die Portionen wurden immer größer. Nachschlag? Na klar! „Ich hatte kein Sättigungsgefühl mehr. Es war mir in dem Moment scheißegal, ob ich zehn Kilo zu viel wog oder nicht.“

Seinem Kinderarzt war das nicht egal. Er schickte den damals 12-Jährigen mit „gefühlt 20 Kilo Übergewicht“ zu Petra Beye.

Über ihre Arbeit sagt sie: „Manche sehe ich einmal und nie wieder, andere kommen über Jahre hinweg.“ Mit unterschiedlichem Erfolg, gibt die Kinderärztin zu: „Ich hätte gerne mehr solche Erfolgsfälle wie Christopher.“ Denn die Wahrheit ist: Viele Kinder und Jugendliche mit Adipositas nehmen dies ins Erwachsenenalter mit. Bei 55 Prozent der adipösen 6- bis 9-Jährigen und bei bis zu 75 Prozent der adipösen Jugendlichen bleibt das Übergewicht bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen. Auch die Spezialistin kann aus eigener Erfahrung Studien bestätigen, wonach es stark von den sozialen Verhältnissen und dem Lebensstil abhängt, ob ein Kind gesund lebt oder nicht. Viele ihrer jungen Patienten sind aus dem vermeintlichen „Problemviertel“ Magdeburg-Olvenstedt oder haben Migrationshintergrund.

Jugendliche mit über 100 Kilo seien keine Seltenheit. Ihr bisher schwerster Fall hatte einen Bodymaßindex (BMI) von 51 kg/qm Nur in fünf Prozent der Fälle liege ein genetischer Defekt, eine organische Störung oder ernsthafte Krankheit vor: „Im Prinzip stecken nur zwei Dinge hinter Übergewicht und Adipositas: Ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel.“ Viele der Familien fehle nicht nur das Geld, sondern oft auch die Einsicht, mit den Kindern etwas zu unternehmen, sich im Freien zu bewegen oder Sport zu machen: „Manche sind so träge und behäbig, dass sie kaum auf die Liege kommen, um sich von mir untersuchen zu lassen.“

Bereits nach dem ersten Gespräch mit den Eltern wisse sie, ob die ganzheitliche Therapie, in die auch eine Ernährungsberaterin und der Sportverein VSB 1980 Magdeburg mit seinem Projekt „Bärenstark abnehmen“ eingebunden sind, Sinn macht oder nicht: „Es ist leider so, dass die Kinder von stark übergewichtigen Eltern so gut wie keine Chance haben. Da herrscht oft Uneinsichtigkeit.“ Es gäbe hitzige Diskussionen, ob es Nutella zum Frühstück geben sollte oder nicht.

Und Wasser statt Cola anzubieten, grenze für die Betroffenen fast an Körperverletzung. „Da ist der Leidensdruck nicht groß genug, um etwas grundsätzlich zu ändern. Das ist ärgerlich. Aber ohne, dass die Eltern mitziehen und mit gutem Beispiel vorangehen, macht das Ganze keinen Sinn“, so Beye.

Dass Abnehmen kein Kinderspiel ist, hat Christopher Müller, der zu „besten“ Zeiten bei einer Größe von 1,64 m an die 80 Kilo wog, am eigenen Leib erfahren. Anfangs purzelten die Pfunde. „Sicher, weil ich alle drei Wochen zur Kontrolle zu Frau Doktor Beye musste.“ Dann aber ließ er die Zügel schleifen. Zumal die Eltern ihr Konsum- und Essverhalten nicht geändert haben: „Es hätte mir sicher geholfen, wenn sie mitgemacht hätten, statt auf meine Selbstkontrolle zu setzen. Die funktioniert bei einem Kind ohne Hilfe nicht.“

Richtig klick gemacht habe es erst mit der Pubertät. „Da schaust du kritischer in den Spiegel und sagst Dir: So findest bestimmt nicht den passenden Deckel.“ Beim Abnehmen geholfen habe dann tatsächlich die erste Liebe, gesteht der einstige Bewegungsmuffel. Er machte es auf die harte Tour, ging ins Fitnessstudio, sparte an den normalen Mahlzeiten. Um zumindest nicht ganz auf Süßes verzichten zu müssen, hungerte er teilweise. „Auch wenn es nicht der schönste Weg war, innerhalb eines Jahres habe ich zehn Kilo abgenommen. Ich wusste ja durch die Therapie bei Frau Dr. Beye, an welchen Schrauben ich drehen musste.“ Am Ende der Tortur waren es 20 Kilo, die er weniger auf den Rippen hatte.

Heute wiegt Christopher Müller 62 Kilo bei 1,74 Metern Körpergröße. Sein Gewicht hält er mit kohlenhydratarmer Ernährung und viel Sport. „Ich fühle mich endlich wohl in meiner Haut. Wie befreit. Das Ganze war ein hartes Stück Arbeit, aber dieses neue Lebensgefühl war es wert.“