1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Mord unterm Weihnachtsbaum

Kriminalfall Mord unterm Weihnachtsbaum

Es heißt Fest der Liebe. Doch Weihnachten kommt es oft zu gewalttätigen Auseinandersetzungen - besonders innerhalb der Familie.

Von Bernd Kaufholz 22.12.2019, 00:01

Magdeburg l Ernst Ocker (Name geändert) sitzt am 24. Dezember 1959 in der Stube seiner Wohnung in der Olvenstedter Straße in Magdeburg. Sein Blick streift die Fichte mit den bunten Glaskugeln, dem Lametta und den Kerzen. Der Expedient vom Baustoffwerk freut sich auf das bevorstehende Weihnachtsfest im Kreis der Familie. Ocker steht auf und beginnt, die Kerzen anzuzünden.

Die Ehefrau des 55-Jährigen bereitet in der Küche gerade das Abendessen vor, da klingelt es an der Wohnungstür. Ernst Ocker hört die Stimme seiner Frau und die eines Mannes. „Ernst, kommst du mal, Herr Tylle (Name geändert) ist hier“, ruft ihn seine Frau Sekunden später.

Walter Tylle und dessen Ehefrau Irmgard wohnen seit einem Jahr auf derselben Etage wie die Ockers. Doch besonders eng ist die Beziehung zwischen den Nachbarn nicht.

Zuerst glaubt er, seine Frau habe sich geirrt. „Das ist doch nicht der Tylle“, denkt er, als er die Gestalt mit dem tief ins Gesicht gezogenen Hut sieht. Doch als Ocker vor dem Mann steht und dieser den Kopf hebt, erkennt er seinen Flurnachbarn.

Das Erste, was ihm auffällt, ist das wachsbleiche Gesicht mit den beinahe schwarzen Augenringen. Tylle sagt mit kaum vernehmbarer Stimme: „Kommen Sie, helfen Sie mir.“

„Was ist denn los? Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragt der Wohnungsinhaber. Doch noch leiser flüstert Tylle nur: „Mein Gott, mein Gott, helfen Sie mir. Rufen Sie eine Taxe an.“

Ob denn seine Frau nicht zu Hause sei, will Ocker wissen. Es sieht so aus, als würde der Mann jeden Augenblick zusammenbrechen. Als Ocker ihn am linken Arm berührt, verzieht der 56-Jährige schmerzvoll das Gesicht und wehrt ab. Er stützt ihn deshalb am rechten Arm. Ockers Sohn Eberhardt gelingt es, ein freies Taxi anzuhalten. Der 17-Jährige ruft über den Hof: „Vati, ich habe ein Auto.“ Vor dem Hauseingang wartet ein schwarzer EMW vom VEB Taxi.

Der Fahrer bringt Tylle zur Medizinischen Akademie in der Leipziger Straße. Dort schaut sich der diensthabende Arzt den linken Arm des Patienten an. In der Ellenbeuge stellt er eine sechs Zentimeter lange und einen Zentimeter tiefe, stark infizierte Schnittwunde fest.

Der Bereitschaftsarzt will wissen, wie sich Tylle die Verletzung zugezogen hat. Doch erst als der Mann in Weiß nicht lockerlässt, gibt der Patient an, dass er sich die Verletzung mit einem Messer selbst zugefügt habe. Der Mediziner erkennt, dass Tylle eine Menge Blut verloren hat. Da der Mann einen verstörten Eindruck macht, stellt der Chirurg den Verletzten in der Nervenklinik vor. Tylle wird stationär aufgenommen.

Am zweiten Weihnachtstag wollen Doris Klose und Marlis Sirr (beide Namen geändert) Familie Tylle besuchen. Die 19 Jahre alte Doris ist die Tochter von Irmgard Tylle (Name geändert), die 16-jährige Marlis die Nichte.

Sie klingeln mehrmals an der Tür der Tylles, doch niemand öffnet. Da den beiden die Sache seltsam erscheint, fragen sie im Haus nach, ob jemand weiß, wo sich das Ehepaar befindet. Dabei erfahren sie, dass eine Mieterin im Besitz eines Ersatzschlüssels ist. Zu dritt gehen sie wieder die zwei Etagen zur Wohnung der Tylles hinauf. Die Frau schließt die Tür auf, und sofort verschlägt ihnen ein beißender Geruch den Atem. Schon vom Flur aus sehen sie durch die offen stehende Tür zum Zimmer eine Tote im Doppelbett liegen.

Die Frauen laufen entsetzt auf die Straße und dann zum Olvenstedter Platz. Dort treffen sie auf den Verkehrspolizisten Domagalla. „Meine Mutter ist tot“, spricht Doris Klose den Polizeimeister völlig aufgelöst an. „Sie liegt tot im Bett.“

Domagalla informiert um 15.30 Uhr das Magdeburger Polizeikreisamt. Wenig später ist Polizeimeister Röpke von der Kriminalabteilung AK/1 vor Ort. Er schaut sich im Zimmer um. Die Tote liegt, bis zum Hals zugedeckt, im Bett. Das Bettzeug, besonders das Kopfkissen, ist völlig mit Blut überzogen.

Gegen 17 Uhr treffen Mordkommissionschef Oberleutnant Winter und Sachbearbeiter Oberleutnant Schmidt am Tatort ein. Auf dem Tisch entdecken die Polizisten einen karierten Schreibblock. Auf der ersten Seite steht mit blauer Tinte geschrieben:

„Fresko Sonett an Christine S.“

Es folgen einige Strophen und das Gedicht endet mit den Worten:

Aus dem gebrochenen Herzen fühl ich fließen,

mein heißes Blut, ich fühl mich ermatten,

und vor den Augen wird’s trüb und trüber.

Und heimlich schauernd sehn’ ich mich hinüber

nach jenem Nebelreich, wo stille Schatten

mit weichen Armen liebend mich umschließen.

„Was will der Schreiber damit sagen?“, fragen sich die Ermittler. „Ist das ein verklausulierter Abschiedsbrief? Und wenn ja, wer hat ihn geschrieben? Und wo ist eigentlich der Ehemann der Toten?“

Die Männer der Mordkommission fahren zur Zerbster Straße. Dort wohnt die Mutter des Opfers. Frieda Sirr (Name geändert) hält mit ihrer Meinung nicht lange hinterm Berg. „Das war doch keine Ehe“, winkt sie ab. „Walter ist aus Westdeutschland gekommen. Er ist jähzornig und grundlos eifersüchtig. Er war schon viermal verheiratet, bevor er mit Irmgard zusammenkam. Anfang des Jahres hat sie die Scheidung eingereicht. Aber weil Walter meine Tochter so sehr angebettelt hat, hat sie das wieder rückgängig gemacht.“ Als Polizeimeister Röpke schon die Wohnung verlassen will, sagt Frieda Sirr noch: „Meine Tochter hat mir mal erzählt, dass Walter bei einem Streit zu ihr gesagt hat: ‚An dir werde ich mich noch mal vergessen.‘ “

Aufgrund der Spuren und dem Verschwinden Walter Tylles sehen die Ermittler vorläufig in ihm den Hauptverdächtigen. Das Kreisgericht Magdeburg-Süd erlässt am 27. Dezember Haftbefehl. Der 56-Jährige wird zur Fahndung ausgeschrieben. Kurz darauf findet die Polizei den Gesuchten in der Nervenklinik der Medizinischen Akademie.

Um 22 Uhr an jenem Sonntagabend sitzt Tylle bereits vor seinen Vernehmern. Dabei spricht der Verdächtige auch über seine Ehe: „Meine Frau war Serviererin. Sie trank sehr viel. Deshalb hat es oft Streit zwischen uns gegeben. Am 18. April ist Irmgard deshalb ausgezogen.“

Um Staatsanwalt Witter und Polizeimeister Röpke vom Magdeburger Polizeiamt klarzumachen, wen sie vor sich haben, brüstet sich Tylle mit seiner politischen Vergangenheit: „1931 bin ich in Hamburg in die Kommunistische Partei eingetreten, und nachdem ich aus der Kriegsgefangenschaft gekommen bin, habe ich mich sofort bei der KPD Hamburg-Harvestehude Rothenbaum gemeldet und wurde Leiter einer Straßenzelle.“ Nach seiner Übersiedlung nach Leipzig 1948 sei er in die SED aufgenommen worden.

Dann schildert er das Zusammenleben mit seiner Ehefrau ausführlicher. Wild mit den Händen gestikulierend und mit Wut in der Stimme sagt er: „Ich will gar nicht so weit zurückblicken. Damit sie sich ein Bild machen können, will ich nur darauf aufmerksam machen, dass sich meine Frau an Volkseigentum vergriffen hat.“ Sie habe als Serviererin in der Gaststätte „Herrenkrug“ 20 Flaschen Wein für 6,75 Mark die Flasche gestohlen und verkauft. „Ich habe es als meine Pflicht angesehen, diese Tat bei der Polizei anzuzeigen.“

Auf Nachfragen der Vernehmer gibt Tylle zu, bei Streitigkeiten mehrmals „tätlich“ gegen seine Frau geworden zu sein.

Aufgrund der Diebstahlsanzeige ihres Mannes war Irmgard Tylle Mitte Dezember 1959 von der Polizei vorgeladen worden. Die zweite Vorladung war am 22. Dezember mit der Post gekommen. Walter Tylle hatte das Schreiben geöffnet und seiner Frau spätabends unter die Nase gehalten. „Es gab wieder Streit“, berichtet der Verhörte. Als sie im Bett lagen, habe seine Frau gesagt: „Morgen werde ich dir einen Grund geben, damit du dich scheiden lässt.“

„Ich habe sofort verstanden, was Irmgard meinte, sie wollte sich einen Liebhaber anlachen. Das konnte ich doch nicht auf mir sitzen lassen.“ Es habe eine „längere Aussprache“ gegeben. „Dabei wurde ich recht erregt, und ich habe das erste Mal daran gedacht, meine Frau und mich umzubringen“, sagt Tylle.

Nach dem Streit im Ehebett hatte der Verhörte weiter wach gelegen. Seine Frau lag auf dem Rücken, das Gesicht von ihm abgewandt. „Ich bin leise aufgestanden. Dann ging ich in die Toilette mit dem Werkzeugkasten an der Wand. Von dort holte ich mir einen Hammer.“

Er habe sich wieder ins Bett gelegt und den Hammerstiel mit der rechten Hand fest umklammert. „Im Liegen habe ich zum Schlag ausgeholt und meiner Frau einen kräftigen Hieb auf den Kopf gegeben.“ Irmgard Tylle habe daraufhin instinktiv die Hände auf den Kopf gelegt, um sich zu schützen. Ihr Ehemann schlug noch zweimal zu.

„Meine Frau hat stark geröchelt und ich hatte den Eindruck, dass sie sehr schwer stirbt. Das konnte ich nicht mit anhören und zog ihr deshalb das Kissen unter dem Kopf hervor, legte es ihr über den Hals und drückte ihr gleichzeitig die Kehle zu. Sie sollte endgültig tot sein.“

Nachdem die 40-Jährige „völlig still geworden“ war und „nicht mehr atmete“, habe er ihre Hände mit einem Waschläppchen sauber gemacht und sie „ordentlich über Kreuz auf ihre Brust gelegt.“ Anschließend habe er die Bettdecke wieder „geordnet über sie ausgebreitet“.

Tylle war danach an den Tisch getreten, der rechts vom Doppelbett stand, und hatte aus dem weißen Kästchen einige Rasierklingen genommen. Damit legte er sich wieder ins Bett an die Seite seiner ermordeten Frau. Er schnitt mehrmals mit den Klingen in seine linke Ellenbeuge. Durch den Blutverlust sei er in eine Ohnmacht hineingedämmert und erst zwei Tage später, Heiligabend, wieder aufgewacht – auf dem Fußboden. „Ich habe sehr gefroren und bin zu meinen Nachbarn, Familie Ocker, gegangen.“

Am nächsten Tag, dem 28. Dezember, erlässt das Kreisgericht im Stadtbezirk VI um 14.45 Uhr Haftbefehl wegen Totschlags. Am selben Tag, an dem Walter Tylle ins Magdeburger Untersuchungsgefängnis einzieht, untersuchen ein paar Straßen weiter die Rechtsmediziner der Medizinischen Akademie die Leiche Irmgard Tylles. Der Tod ist durch Ersticken eingetreten, stellen die Obduzenten fest, wahrscheinlich durch einen „strangulierenden Vorgang“. Im Gutachten halten sie fest: „Der zur Erstickung führende Mechanismus konnte, allein anhand der Sektion, nicht festgestellt werden. Es ließen sich am Hals keine entsprechenden Spuren nachweisen. Deshalb muss es sich um ein sogenanntes weiches Strangulierwerkzeug gehandelt haben, das keine Spuren hinterlassen hat.“ Ein Kissen sei geeignet, bei entsprechend langem Strangulieren, den Tod herbeizuführen und hinterher keine oder nur sehr geringe Spuren zu hinterlassen.

Die beiden Wunden an der linken Kopfseite könnten von Hammerschlägen herrühren. Sie hätten jedoch „lediglich zum Platzen der Kopfschwarte geführt“ und seien keinesfalls tödlich gewesen. Allerdings könnten sie „Benommenheit oder gar die Betäubung“ des Opfers ausgelöst haben.

Nachdem Tylle Anfang 1960 die Mordtat erneut geschildert hat, klärt er auch das Rätsel des „Fresko Sonetts an Christine S.“ auf. „Ich habe es acht bis zehn Tage vor dem schlimmen Vorfall geschrieben. Ich habe das Werk in einem Heine-Buch gefunden und wörtlich abgeschrieben. Mit der Tat hat das Schreiben überhaupt nichts zu tun“, beteuert er.

Das nervenfachärztliche Gutachten spricht auf 23 Seiten von einer „gemütslosen, bindungslosen, brutal-rücksichtslosen, des Mitleids unfähigen und expansiven Persönlichkeitsstruktur“. Außerordentlich bemerkenswert sei im Zusammenhang mit der Tat, dass Tylle zwei Tage neben der Leiche seiner Frau im Bett liegen geblieben ist.

„Der anfängliche Verdacht, dass schizoide Züge vorliegen könnten, hat sich nicht bestätigt.“ Ebenso wenig die Annahme eines krankhaften Eifersuchtswahns. Die Voraussetzungen des Paragraphen 51 (Schuldunfähigkeit oder eingeschränkte Schuldfähigkeit) liegen daher nicht vor.

Am 5. Mai 1960 beginnt vor dem II. Senat des Bezirksgerichts Magdeburg der dreitägige Prozess gegen Walter Tylle. Fünf Zeugen und vier Sachverständige werden gehört.

Am 9. Mai 1960 spricht Richterin Krug den Angeklagten schuldig und verurteilt ihn zu lebenslangem Zuchthaus. Im vorliegenden Falle sei von der Todesstrafe abzusehen, weil „in unserem Arbeiter- und Bauernstaat feste gesellschaftliche Verhältnisse bestehen und unsere Gesellschaft stark genug ist, derartige Verbrecher so zu isolieren und sie durch eine lebenslange Zuchthausstrafe von weiteren Verbrechen abzuhalten“. Tylle legt gegen das Urteil Berufung ein, es solle ihm Gelegenheit gegeben werden, „Entlastungszeugen“ ausfindig zu machen, die aussagen, was er bisher geleistet habe und was er für ein Mensch sei. „Außerdem liegt mir daran, den Tathergang richtig zu schildern.“ Das Oberste Gericht der DDR lehnt den Antrag am 31. Mai 1960 als „offensichtlich unbegründet“ ab.

Am 31. Januar 1978 wird der nunmehr 75-Jährige nach seiner Begnadigung durch den Staatsrat der DDR in ein Magdeburger Pflegeheim entlassen.

(Stark gekürzt aus dem Buch „Der Muttermörder mit dem Schal“, Mitteldeutscher Verlag Halle)