Im Februar 1967 verirrt sich ein zwölf Jahre alter Nordhäuser bei Sorge im Harz über die innerdeutsche Grenze. Von Bernd Kaufholz Kuriose "Republikflucht": Roman allein im Westen
Es ist ein Treffen nach 45 Jahren. An einem historischen Ort. An dem der damals zwölf Jahre alte Roman Klukas (Ost) und der 30-jährige Zollbeamte Werner Weule (West) bereits einmal zusammentrafen. 1967 am ehemaligen Grenzstreifen bei Sorge.
Sorge l Der Junge aus Hesserode im Südharz, der am 5. Februar 1967 in Sorge gerade aus der Harzquerbahn gestiegen ist, fröstelt, als er auf dem kleinen Bahnsteig für die Schmalspurbahn steht.
Roman Klukas ist vor gut einer Stunde in Nordhausen (Thüringen) in den Zug gestiegen. Der Zwölfjährige will die Winterferien bei seinen Großeltern in Tanne verbringen. Was er zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß, ist, dass er ungewollt, allerdings nur für zwei Tage, zum DDR-Flüchtling werden wird.
"Warum mich damals keiner von meinen Leuten abgeholt hat, weiß ich nicht mehr", sagt Klukas gestern, als er am ehemaligen Todesstreifen bei Sorge steht. "Ein Bus fuhr auch nicht. Aber ich wusste ja, dass es nur etwa zwei Kilometer bis Tanne sind. Da bin ich eben zu Fuß losgegangen."
Der Junge geht an einem Schild vorbei, das darauf hinweist, dass man dieses Gebiet nur mit Passierschein betreten darf. Kein Problem für den Zwölfjährigen, hat er doch solch Dokument für den Besuch der Großeltern in der Tasche.
Gleich hinterm Bahnhof beginnt der sogenannte Schutzstreifen der Grenze, die damals noch lange nicht so ausgeklügelt ist, wie am Ende der DDR. "Ich habe mich über den komischen Weidezaun gewundert, der da lag - doppelt ausgelegte Stacheldrahtrollen. Mit Lücken dazwischen." Die nutzt er.
Um sich zu orientieren, klettert der Thüringer nahe einer kleinen Brücke über die Warme Bode - zwei Eisenträger - auf einen unbesetzten Wachturm.
Doch so richtig hilft ihm das nicht weiter. Er steigt herunter, geht weiter der Nase nach und läuft kurz darauf zwischen Hohegeiß und Braunlage zwei Uniformierten in die Arme. Der eine fragt erstaunt, "wo willst du denn hin?" Die Antwort des Jungen: "Nach Tanne, zu Oma und Opa." "Nach Tanne?", schaut der Zollbeamte den Zwölfjährigen ungläubig an. "Das liegt doch in der Ostzone."
Klukas sagt, dass er dann eben wieder zurückgehen müsse. Doch das untersagen ihm die Bundesbeamten kategorisch. "Da liegen doch Minen. Das müssen wir anders regeln."
Sie nehmen den DDR-Jungen mit nach Braunlage ins Zollamt. Werner Weule ist damals stellvertretender Leiter. Ihm wird der Junge übergeben. Ob er denn keine Verwandten in der BRD habe, will Weule wissen. Klukas gestern zur Volksstimme: "Ich hatte Verwandte in Hannover. Aber ich wusste nicht, wo sie wohnten."
Der Zolloberinspektor geht mit dem Jungen zur Aussichtsplattform bei Hohegeiß. Klukas erinnert sich: "Da standen drei, vier Busse, die Besucher wollten alle in den Osten gucken. Die haben mir erst mal Apfelsinen und Schokolade geschenkt." Aber Weule hat keine nachweihnachtliche Bescherung im Sinn, als er mit dem Zwölfjährigen auf den Ausguck steigt. Er hat ein Megaphon mitgebracht und ruft den DDR-Grenzern im gegenüberstehenden Wachturm zu, dass er einen Jungen bei sich hat, der sich zufällig auf bundesdeutsches Gebiet verirrt hat. Doch die Grenzer reagieren nicht. Sie vermuten wohl, dass sich der westdeutsche Beamte einen Scherz mit ihnen machen will.
Weule überlegt, was zu tun ist. "Ich erinnerte mich, dass wochentags zwischen dem niedersächsischen Walkenried und Ellrich, dem südlichsten Zipfel Thüringens, Güterzüge verkehren. Es gab auch eine direkte Telefonverbindung zwischen den Bahnhöfen. So habe ich auf dem kleinen Dienstweg die DDR-Behörden und diese wiederum die Eltern benachrichtigt."
Am Montag bekommt der Zöllner die Genehmigung, das "Findelkind" auf den Mittagsgüterzug zu setzen und zurückzuverfrachten.
"Ich wollte den Jungen nicht mit leeren Händen fahren lassen", sagt Weule. "Meine Frau hat ihm Südfrüchte eingepackt. Ich bin vor der Abfahrt in ein Spielzeuggeschäft gegangen." Er habe gedacht, dass sich Roman vielleicht ein Matchbox-Auto aussucht. Aber er habe eine Wasserpistole gewollt. "Ich hatte ein bisschen Bauchschmerzen, dass die drüben sagen: Im Westen gibt\'s nur Kriegsspielzeug." Aber er bekam sie trotzdem.
Dann sitzt Roman auf dem Zug. Weil die Wagen verplombt sind, darf der Zwölfjährige die fünf Kilometer auf der Lok mitfahren.
"Ich wurde vom Grenzbahnhof abgeholt, mit einem Jeep und nach Nordhausen zur Polizei gebracht." Da habe man ihn zwei Tage lang ausgefragt. "Zum Beispiel, ob ich Spritzen gekriegt habe. Warum, das habe ich bis heute nicht verstanden."
Später sei er hin und wieder mal gefragt worden, warum er die Situation nicht genutzt habe, um im Westen zu bleiben? "Der Zug nach Hause war stärker", antwortete er jedes Mal. "Was sollte ich denn als Zwölfjähriger in der Bundesrepublik. Meine Eltern lebten doch in der DDR ..."
Der heute 75 jahre alte pensionierte Zollbeamte Werner Weule hat das Treffen nach 45 Jahren an der ehemaligen Grenze organisiert. Da er nur den Vornamen von Roman Klukas kannte, hatte er seinen "Schützling" von 1967 über eine Thüringer Tageszeitung gesucht. Gestern reichten sich beide im ehemaligen Todesstreifen bei Sorge die Hand.