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Standard in Medizin häufig Mann Erste Vollzeit-Professur in Deutschland für geschlechtersensible Medizin in Magdeburg

Ute Seeland ist die erste Vollzeit-Professorin für Geschlechtersensible Medizin in Deutschland. Zum 1. März hat sie ihre Stelle an der Uniklinik Magdeburg angetreten. Ein Interview.

Von Alexander Walter Aktualisiert: 08.03.2024, 12:09
Ute Seeland an ihrem neuen Arbeitsort, dem Uniklinikum Magdeburg. Die 56-Jährige ist die erste Vollzeit-Professorin für Geschlechtersensible Medizin in Deutschland.
Ute Seeland an ihrem neuen Arbeitsort, dem Uniklinikum Magdeburg. Die 56-Jährige ist die erste Vollzeit-Professorin für Geschlechtersensible Medizin in Deutschland. Foto: Alexander Walter

Magdeburg - Die Uniklinik Magdeburg hat seit dem 1. März als deutschlandweit erste Universitätsmedizin eine Vollzeit-Professur für Geschlechtersensible Medizin. Gewonnen wurde dafür eine ausgewiesene Expertin, die Professorin und Fachärztin für Innere Medizin Ute Seeland. Im Volksstimme-Interview erklärt die Ärztin, die von der Charité Berlin nach Magdeburg wechselt, warum die Medizin bislang zu wenig Rücksicht auf Geschlechtsunterschiede nimmt und bisherige Standarddosierungen für Frauen sogar gefährlich sein können.

Volksstimme: Frau Dr. Seeland, die Medizin macht gerade große Fortschritte in vielen Bereichen, etwa bei mRNA-Therapien gegen Krebs. Warum braucht es ausgerechnet jetzt eine Professur für Geschlechtersensible Medizin – sind wir über diesen Punkt nicht längst hinaus?

Ute Seeland: Keineswegs. Die Wissenschaft forscht bislang fast ausschließlich an männlichen Tieren oder Probanden, und zwar zufällig, nicht bewusst. Man legt also unreflektiert den männlichen Organismus als Standard zu Grunde.

Das schien bislang kein Problem, jetzt ist es eines?

Ein Problem ist das leider schon immer. Es wurde bislang nur zu wenig gesehen. Ich erinnere mich an einen Satz des früheren Dekans der Charité. Der sagte schon vor Jahren: „Irgendetwas müssen wir ändern, wir können Studienergebnisse gar nicht reproduzieren.“

Heute weiß man, warum: Der Otto-Normal-Patient in Studien ist 35 Jahre alt, Nichtraucher, treibt Sport – und er ist vor allem männlich. Das verzerrt die Realität. Der Körper von Frauen funktioniert in vielem ganz anders – und Frau ist nicht gleich Frau. Auch hier müssen wir noch einmal unterscheiden zwischen Frauen vor den Wechseljahren, in den Wechseljahren und danach. Außerdem haben wir die schwangeren Frauen.

Weil die Medizin so auf den männlichen Infarkt getrimmt ist, erkennen selbst Kardiologen krankhaft veränderte Gefäße bei Frauen nicht immer.

Welche Folgen hat das? Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen wir den Herzinfarkt. Der Klassiker ist der Mann mittleren Alters, der kaltschweißig und noch mit der Zigarette in der Hand aus dem Restaurant stürmt und dann mit Schmerzen in der Brust zusammenbricht. Bei Frauen verläuft ein Herzinfarkt oft ganz anders – eben weil die Erkrankung hier ein anderes Gesicht hat: Sie klagen oft über Müdigkeit, Leistungsschwäche oder auch Rückenschmerzen.

Grund für die Unterschiede: Ursache für den Infarkt sind zwar auch bei Frauen Durchblutungsstörungen des Herzmuskels. Hier sind die Herzkranzgefäße aber seltener punktuell eingeengt. Vielmehr sind die Gefäße oft durch Ablagerungen in den Gefäßwänden verändert und erscheinen dadurch bei der Untersuchung mit Kontrastmitteln dünner als normal und oft auch geschlängelt. Am Ende kommt auch hier zu wenig Blut im Herzmuskel an.

Das Fatale: Weil die Medizin so auf den männlichen Infarkt getrimmt ist, erkennen selbst Kardiologen krankhaft veränderte Gefäße bei Frauen nicht immer.

Gilt das auch für andere Krankheiten?

Ja. Frauen mit Diabetes haben im Vergleich zu Männern zum Beispiel ein dreifach höheres Risiko, einen Herzinfarkt oder andere kardiovaskuläre Erkrankungen zu bekommen als Frauen ohne Diabetes. Auch bei Bluthochdruck ist das Risiko, später einen Schlaganfall oder eine Herzwandverdickung zu entwickeln, im Vergleich zu Männern erhöht.

Apropos Bluthochdruck, wo einer meiner Forschungsschwerpunkte liegt: Als allgemeiner Grenzwert wird hier ja meist 130 zu 80 genannt. Studien haben inzwischen gezeigt, dass der Risikobereich für Frauen schon bei einem Wert von 110 beginnt. Bei der klassischen Messung wird außerdem oft übersehen, dass die Gefäßwände im Alter häufig verhärten – mit Auswirkungen auf das Messergebnis. Ich wende daher eine andere Methode an, die sogenannte oszillometrische Messung der Pulswellengeschwindigkeit.

Ihre Professur wird von der Margarete-Ammon-Stiftung finanziert. Die Gründerin gilt als eine der Wegbereiterinnen der Gendersensiblen Medizin in Deutschland. Auch weil sie selbst entsprechende Erfahrungen machte. Was hat sie erlebt?

Die inzwischen leider verstorbene Frau Ammon hatte vor etwa dreißig Jahren im Alter von 70 einen Herzinfarkt, den sie überlebte. Sie wurde danach medikamentös behandelt, fiel kurze Zeit auf der Straße aber erneut um und überlebte diese zweite Attacke nur knapp. Sie hat sich dann an die schon damals in der Frauenmedizin engagierte Professorin an der Charité, Vera Regitz-Zagrosek, gewandt.

Sie vermutete, dass die für Männer geltende Standarddosierung für ein Herzmedikament für die sehr viel kleinere und ältere Frau der Grund für dieses lebensgefährliche Ereignis gewesen sein könnte. Frau Ammon hat das Thema dann ihr Leben lang weiter beschäftigt, und sie hat Forschungsarbeiten dazu finanziell unterstützt.

Warum sind die Unterschiede zwischen Männern und Frauen so groß, dass sie über Leben und Tod entscheiden können?

Das hat mehrere Gründe: Männer sind größer und schwerer und haben im Schnitt deutlich mehr Muskelmasse, Frauen dafür mehr Fettgewebe. Wenn ich etwa ein fettlösliches Medikament gebe, reichert sich das im weiblichen Körper leichter an. Hinzu kommt, dass die Nierenfunktion bei Frauen im Alter stärker nachlässt als bei Männern. Auch dadurch entsteht das Risiko, dass sich Medikamente stärker im Körper ansammeln.

Es dauert länger, bis ein Mann krank wird. Wenn er aber einmal krank ist, ist es schwieriger, ihn wieder zu heilen.

Im Alltag ziehen die Geschlechter sich gegenseitig gern mal auch mit den vermeintlich kleinen Unterschieden auf. So wird Männern nachgesagt, sie wären auch beim kleinsten Schnupfen extrem wehleidig. Verbergen sich auch dahinter biologische Unterschiede?

Ja, gerade hier. Die größten Unterschiede zwischen Männern und Frauen bestehen beim Immunsystem. Der Hintergrund ist: Frauen vor den Wechseljahren besitzen mit dem weiblichen Geschlechtshormon Östrogen einen natürlichen Schutz gegen so manchen „Sturm“ entzündungsvermittelnder Stoffe, die als Auslöser für überschießende Immunreaktionen gelten.

Das ist dann auch der Grund dafür, warum Männer nicht nur subjektiv, sondern objektiv oft stärker an Erkältungsinfektionen leiden als Frauen – nicht nur beim sogenannten „Männerschnupfen“. Das Phänomen hat man auch bei Corona gesehen. Ich sage meinen Studierenden immer gerne: Es dauert länger, bis ein Mann krank wird.

Wenn er aber einmal krank ist, ist es schwieriger, ihn wieder zu heilen. Nach den Wechseljahren allerdings ist es häufig umgekehrt. Mit dem Rückgang des Östrogens leiden Frauen häufiger unter Entzündungsreaktionen und Autoimmunerkrankungen.

Beschränkt sich Ihre Arbeit auf biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern oder spielen auch soziokulturelle Aspekte eine Rolle?

Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch neben dem biologischen Geschlecht zusätzlich ein soziokulturelles besitzt. Die angelsächsische Wissenschaft würde von Sex und Gender sprechen. Wir nutzen Beschreibungen wie biologisches Geschlecht und ein Konstrukt, das wir soziokulturelles Geschlecht nennen.

Das bedeutet, wir erfassen unter anderem die Lebensumstände, den Bildungsgrad und die Zugehörigkeit zu einer Religion. Denn die eigene Verortung in der Gesellschaft beeinflusst das eigene Verhalten und hat somit Einfluss auf den Erhalt von Gesundheit und die Entstehung von Krankheiten.

Ein Beispiel: Frauen gehen bedingt durch ihre Sozialisierung und den frühen Besuch beim Frauenarzt oft schon ab 18 Jahren regelmäßig zu Voruntersuchungen, während man Männer vielleicht irgendwann mit 50 Jahren überredet bekommt, doch mal zur Prostatauntersuchung zu gehen. All diese Dinge fließen da ein.

Zur Person

Ute Seeland wurde in Berlin geboren. Nach dem Abitur studierte sie Medizin in Berlin, Marburg und Göttingen. 1999 promovierte sie an der Universität Marburg (Hessen). Für ihre Forschungsarbeiten erhielt sie zahlreiche Preise, so den Wissenschaftspreis des Deutschen Ärztinnenbundes, der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie und eine Anerkennung der „European Society of Cardiology“ für ihre Arbeit an den Leitlinien zu kardiovaskulären Erkrankungen in der Schwangerschaft.

Die 56-Jährige ist Fachärztin für Innere Medizin und habilitierte 2021 im Fach Innere Medizin/Geschlechtersensible Medizin an der Charité in Berlin. Sie ist Mitglied mehrerer Fachgesellschaften, darunter der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin, in der sie auch den Vorsitz innehat.

Parallel zu ihrer Professur in Magdeburg ist Seeland derzeit noch Expertin für den Teilbereich geschlechtersensible Medizin am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité.