Ingenieure Mehr Mut zum Unternehmertum
Erfinder müssen sich neu erfinden: Weil der digitale Wandel das Berufsbild des Ingenieurs verändert, steht die Branche vor großen Aufgaben.
Magdeburg l Die gerahmten Fotos an der Wand vor dem Eingang zum Büro von Michael Schenk sind ein Symbol richtiger Entscheidungen. Zu sehen sind Aufnahmen aus 2013, dem Jahr der Flut. Schenk leitet auch damals schon das Fraunhofer-Institut im Magdeburger Wissenschaftshafen. An dem Tag, als der Fotograf auf den Auslöser drückte, ist das Gebäude von der Elbe eingeschlossen. Die Tiefgarage steht längst unter Wasser. Dass das Erdgeschoss nicht in der Flut versinkt, ist den Ingenieuren und Architekten zu verdanken, die das Haus geplant hatten und im Angesicht der Elbe entschieden, noch einige Kubikmeter Erde aufzuschütten.
Es ist Mitte Juli, als Michael Schenk vor diesen Fotos steht und sie betrachtet. Schenk, 64 Jahre alt, ist vor kurzem mit der Grashof-Denkmünze der größten Vereinigung deutscher Ingenieure VDI ausgezeichnet worden. Nach dem Flugzeugbauer Hugo Junkers und dem Schwer-Maschinenbau-Pionier Hermann Gruson ist er erst der dritte Sachsen-Anhalter, der diese Münze in seinen Händen halten darf.
„Die Liste der Preisträger liest sich fantastisch“, sagt Schenk zwar. Doch ganz wohl ist ihm der Gedanke nicht, in einer Reihe mit Junkers und Gruson zu stehen. Die beiden Konstrukteure sind bis heute hoch geachtet und legten mit ihren Erfindungen den Grundstein für den wirtschaftlichen Aufschwung in der mitteldeutschen Region.
Und der Ingenieur Schenk? „Die Auszeichnung ist ein Signal, das zeigt, dass es uns gelungen ist, das Ingenieurwesen und damit die Fachkräftebasis in Sachsen-Anhalt seit 1990 wieder erfolgreich zu entwickeln“, sagt er.
Regelmäßig nimmt der Verein Deutscher Ingenieure seine eigene Zunft im Bundesland unter die Lupe. Die letzte Erhebung stammt von 2014: Damals sind rund 44.000 Ingenieure bei Unternehmen in Sachsen-Anhalt beschäftigt gewesen, 2009 waren es rund 39.000. Fünf der sechs Hochschulen im Land sorgen dafür, dass regelmäßig neue Ingenieure dazukommen. Wohin es die Absolventen nach ihren Abschlüssen verschlägt, weiß der VDI allerdings nicht. Dennoch: Mehr als ein Vierteljahrhundert nach der politischen Wende sind die Ingenieure nach Sachsen-Anhalt zurückgekehrt. Die Weichen dafür hat in den vergangenen Jahrzehnten auch Michael Schenk gestellt.
Doch nun sieht der Wissenschaftler neue Herausforderungen auf seine Kollegen im Bundesland zukommen. Die Digitalisierung wird auch das Berufsbild des Ingenieurs deutlich verändern. Der digitale Wandel birgt Risiken, bietet aber auch Chancen. Jetzt liegt es an den Planern und Konstrukteuren in Sachsen-Anhalt mit richtigen Entscheidungen, den Weg in die Zukunft zu ebnen. Zum Ende seiner Laufbahn fällt dabei auch Michael Schenk noch mal eine wichtige Rolle zu. So wie Anfang der Neunzigerjahre.
Schenk ist junger Dozent als das politische System, in dem er groß geworden ist, zusammenbricht. Das Ende der DDR verändert praktisch alles im beruflichen Umfeld des Magdeburger Akademikers: Alte Kollegen werden aufgrund ihrer SED-Vergangenheit auf das Abstellgleis befördert. Junge, engagierte Ingenieure von großen Konzernen im Westen abgeworben. Schenk macht kein Geheimnis daraus, dass auch ihm lukrative Angebote vorgelegen haben. Er ging nicht.
Doch das Verdienst von Schenk ist nicht nur geblieben zu sein. Schenk ist es gelungen, vielen Ingenieuren in Sachsen-Anhalt neue Perspektiven aufzuzeigen. Nach der Wende fällt die Branche in ein Loch: Die Industrie der DDR, in der Magdeburger Region vor allem der Maschinenbau, ist nicht mehr wettbewerbsfähig. Große Betriebe werden nach und nach geschlossen. Für Ingenieure gibt es nur noch wenige Jobs. Viele treten auch notgedrungen den Weg in den Westen an.
In dieser Zeit ist es Schenk, der mit ein paar Kollegen nach München fährt, um bei der Fraunhofer-Gesellschaft vorzusprechen. Ein Institut im nördlichen Sachsen-Anhalt soll als Zeichen des Aufbruchs entstehen und den vielen kleinen Unternehmen im Land als Partner in Forschungsfragen zur Seite stehen. 1992 eröffnet das neue Fraunhofer-Institut für Fabrikbetrieb und –automatisierung in Magdeburg. Schenk wird stellvertretender Leiter.
Als Ende der Neunzigerjahre größere Veränderungen die Industrie zu erfassen scheinen, sind es Schenk und seine Kollegen, die früh das Potenzial erkennen: Bei einem Projekt in Sachsen-Anhalts Chemiedreieck gelingt es den Fraunhofer-Experten, die Produktivität eines Kunden nur durch den Einsatz von digitaler Technik deutlich zu steigern. Was, wenn dieser Trend anhalten und weitere Bereiche der Wirtschaft erfassen würde? Der Ingenieur Schenk ahnt damals die Tragweite der Digitalisierung voraus. Vielleicht hilft ihm dabei, dass er als Kind in einem Lehrerhaushalt aufgewachsen war und seine Eltern ihn stets ermunterten, frei zu denken. Denn während bei vielen Kollegen zu diesem Zeitpunkt noch die Vorstellung für die Tragweite der digitalen Revolution fehlte, fährt Schenk erneut nach München. Ein Neubau mit Technikum am Magdeburger Fraunhofer-Institut soll den Ingenieuren in Sachsen-Anhalt den Weg weisen.
2006 wird in Magdeburg mit dem VDTC des Fraunhofer-Instituts ein Forschungs- und Trainingszentrum für virtuelle Technologien eröffnet. Schenk ist mittlerweile der Leiter des Instituts. Heute sagt er: „Die jahrelangen gemeinsamen Anstrengungen haben viel dazu beigetragen, das Thema Digitalisierung landesweit in den Unternehmen und Institutionen aufzugreifen und hier zu investieren. Dies ist ein wichtiger Baustein, damit sich die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt künftig erfolgreich entwickeln kann.“
Doch, ob es den Ingenieuren im Bundesland gelingt, ihren Beruf neu zu interpretieren, wird nicht nur hinter starren Mauern entschieden. Vielmehr ist Flexibilität gefragt und Mut, neue Wege zu gehen. In den Hörsälen der Hochschulen verändert die immer stärker werdende Verschmelzung zwischen Maschinen und Software schon heute die Lehre.
Die Ausbildung in alten Schubladen wird mehr und mehr aufgeweicht. Denn die Ingenieure der Zukunft werden nicht nur Konstrukteure, sondern auch Übersetzer und Vermittler zwischen Menschen und Maschinen sein. „Wir werden künftig eine höhere Interdisziplinarität haben, die wir auch in den Studiengängen abbilden müssen“, erklärt Schenk. Das Entstehen neuer Berufsbilder könnte für die Branche auch ein Argument sein, dem Nachwuchsmangel zu begegnen. Weil immer mehr alte Kollegen in den Ruhestand gehen, entsteht derzeit eine Lücke. „Wir brauchen noch mehr Ingenieure“, sagt Schenk.
Den digitalen Wandel begreift auch der VDI-Landesverband in Sachsen-Anhalt als Chance. Es gebe mehr zu gewinnen als zu verlieren, sagt dessen Vorsitzender Mirko Peglow. Sachsen-Anhalt sei ohnehin in vielen Statistiken weit hinten. Bei Firmengründungen und Patentanmeldungen zum Beispiel.
Nur 45 Prozent der Unternehmen im Bundesland hätten ein eigenes Produkt. „Wir sind hauptsächlich Dienstleister“, sagt Peglow. Der 42 Jahre alte Ingenieur ist Geschäftsführer eines mittelständischen Lohnfertigers zwischen Halle und Dessau, der vor allem für Chemiekonzerne arbeitet.
Um über die Zukunft seiner Berufsgruppe zu reden, sitzt er im Konferenzraum der Magdeburger Industriearmatur-Manufaktur (Miam). Den kleinen Mittelständler hatte ein befreundeter Ingenieur vor ein paar Jahren gegründet. Mittlerweile ist die Ingenieurskunst des Armaturen-Spezialisten weltweit gefragt. Die Produkte werden nach den Wünschen der Kunden konstruiert und gefertigt. 20 Mitarbeiter sind für die kleine Manufaktur, die im Wissenschaftshafen der Landeshauptstadt sitzt, tätig.
Peglow ist seit vier Jahren Vorsitzender des Vereins deutscher Ingenieure in Sachsen-Anhalt. Angesichts des digitalen Wandels sollten nicht alle Ingenieure zu App-Entwicklern werden, sagt Peglow etwas spöttisch. Der Aufbau eines Maschinen- oder Anlagenbaubetriebs sei ohnehin aufwendiger als der einer IT-Firma, findet der oberste Ingenieur im Bundesland.
Peglow kann die Herausforderung für seine Zunft klar benennen. „Es geht darum, mehr gute Ideen aus den Universitäten in Unternehmensgründungen zu überführen“, sagt er. In Sachsen-Anhalt versuchen sich seit Jahren verschiedene Landesregierungen daran, der Gründerszene einen Schub zu versetzen. Doch die Erfolgsgeschichten sind überschaubar.
An der universitären Bildung liegt es nicht, dass nur wenige Ingenieure nach dem Studium den Sprung in die Selbständigkeit wagen. Vielleicht fehlt der Mut, sagt Peglow. Ganz sicher fehlt aber das Geld. Peglow mein damit nicht die staatlichen Förderinstrumente, sondern den Zugang zu Risikokapital.
Viele Geldgeber konzentrieren sich auf Startup-Zentren wie Berlin, München oder Hamburg. Sachsen-Anhalt bleibt gewissermaßen nur das Münzgeld. Geht es um die Gründung von Unternehmen, fehlen Sachsen-Anhalts Ingenieurs-Nachwuchs deswegen die Vorbilder.
Das Engagement von Peglow für die hiesigen Ingenieurs-Talente ließe sich bequem mit seinem Posten als Landesvorsitzenden begründen. Tatsächlich sieht Peglow aber auch historische Vorbilder, an die Sachsen-Anhalts Ingenieure von morgen vortrefflich anknüpfen könnten: Denn in dem Bundesland liegt gewissermaßen die Wiege der deutschen Ingenieurs-Kunst. Am 12. Mai 1856 wurde der VDI im Harzer Kurort Alexisbad gegründet. Vor dem Zweiten Weltkrieg war die mitteldeutsche Region für rund 30 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung verantwortlich.
Heute stehen in Sachsen-Anhalt vielerorts verlängerte Werkbänke von Konzernen, die in anderen Ländern ihren Sitz haben. Viele Unternehmen sind klein, haben deswegen nicht die Kraft, eine eigene Forschungsabteilung zu stemmen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Mittelstand und den Universitäten, Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen wird deswegen wichtig bleiben.
Der Leiter des Magdeburger Fraunhofer-Instituts ist sich wie viele seiner Kollegen im Bundesland dieser Verantwortung bewusst. Michael Schenk plant im Magdeburger Wissenschaftshafen derzeit den nächsten Anbau. 20 Millionen Euro wird der neue Gebäudeteil wohl kosten. Die Fraunhofer-Wissenschaftler sollen darin Lösungen erarbeiten, wie Menschen und Maschinen künftig miteinander kommunizieren können. Nicht nur Sprache steht dabei im Fokus, sondern auch Gestik und Mimik. Schenk hofft damit erneut, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.