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Mobilität Corona-Frust=Fahrrad-Lust

Die Fahrrad-Händler in Sachsen-Anhalt erleben derzeit einen Ansturm auf ihre Geschäfte.

Von Massimo Rogacki 13.05.2020, 01:01

Magdeburg l Ein Wochentag in der Magdeburger Innenstadt. Milde Temperaturen, die Sonne scheint. Vor dem Eingang von RadMitte lauern um kurz vor zehn Uhr die ersten Kunden. Einer von ihnen: Silvio Vorrath aus Köthen. „Ich bin Motorradfahrer, aber meine Frau fährt gern Fahrrad. Jetzt kauf’ ich mir auch eins. Ist aber noch geheim“, sagt er und zwinkert. Dann gehen die Türen des Geschäfts auf, Vorrath zieht sich ein schwarzes Schlauchtuch über Mund und Nase. Die Suche nach dem passenden Rad kann beginnen.

Wie der Köthener entdecken zahlreiche Sachsen-Anhalter in Corona-Tagen die Vorzüge des Radfahrens. „Nach meiner Ansicht nimmt der Radverkehr in den letzten Wochen gerade in den Städten spürbar zu“, sagt der Landesvorsitzende des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC), Martin Hoffmann. Mobil bleiben, sich bewegen. Zudem sei die Ansteckungsgefahr beim Radeln im Gegensatz zur Fahrt in Bus und Bahn eher niedrig. Gründe genug, das vernachlässigte Gefährt im Keller von Spinnweben zu befreien oder in ein neues Rad zu investieren.

In Berlin etwa lässt sich durch Zählstellen der Anstieg des Radverkehrs in den vergangenen Wochen dokumentieren. Für Sachsen-Anhalt beobachte man keine Zunahme durch die Corona-Krise, heißt es vom Landesverkehrsministerium. Menschen griffen vielmehr auf das Auto zurück, um Abstandsregeln einhalten zu können. Der Radverkehr besonders in den Städten nehme in den vergangenen Jahren aber schon zu. Das Verkehrsministerium rechnet damit, dass dieser Trend anhält.

Im Handel herrscht dieser Tage spürbar Betrieb. „Bei uns ging der Run eine Woche vor Ostern los. Seither wird es nicht weniger“, sagt die Geschäftsführerin von RadMitte, Sandra Weis. Ein Lichtblick nach drei Wochen Existenzangst, in denen der Laden schließen musste. Mitarbeiter musste Weis in Kurzarbeit schicken und Soforthilfe beantragen, weil unklar war, ob es Lockerungen geben würde.

Fahrradsaison wäre jetzt auch ohne Corona, im Vergleich zum Vorjahr hätten die Verkäufe indes um 30 Prozent angezogen, sagt Weis. Hochwertige Räder würden nachgefragt, aber auch Zubehör. Rund 700 Räder stehen zur Auswahl. Von Trekking- über Cityräder, vom E-Bike bis zum Falt- oder Lastenrad. Am Eingang schnappen sich Kunden ein laminiertes Kärtchen. Sind die aus, ist laut Corona-Verordnung die Maximalzahl von Kunden im Geschäft. Besonders am Wochenende führte das zuletzt auch mal zu Wartezeiten.

Schlange stehen – das ist schon länger die Regel bei BadBikes in Wernigerode. Während im Hintergrund das Telefon unentwegt bimmelt, schnauft Geschäftsführerin Kerstin Adam erst mal durch: „Einen Andrang wie derzeit hatten wir wirklich noch nie. Wir machen Überstunden, damit wir hinterherkommen“, offenbart sie. Die Verkäufe hätten stark zugelegt. Zahlreiche Kunden kamen zuletzt auch aus dem benachbarten Niedersachsen. In der Werkstatt gilt: Annahmestopp. Wer sein Rad reparieren oder inspizieren lassen möchte, der muss sich rund zwei Wochen gedulden. Der Andrang dürfte sich fortsetzen, schätzt Adam. In Zeiten, in denen Fernreisen tabu sind, werden sich vermutlich mehr Menschen für den Urlaub daheim entscheiden. Aktivurlaub im Harz mit Rad im Gepäck könnte hoch im Kurs stehen, vermutet sie. Dann muss sie Schluss machen, die nächsten Kunden warten.

In der Werkstatt von RadMitte in Magdeburg wird unterdessen konzentriert gewerkelt. An einem Rennrad stellt ein Mitarbeiter gerade die Bremsen nach. Nebenan ist ein E-Bike aufgebockt. Wo der Defekt schlummert, muss erst geprüft werden. Die Vielzahl von Durchsichten und Reparaturen im Frühjahr – das sei Normalität, sagt Werkstattleiter Florian Kriegel. Seit zwei, drei Jahren nehmen die Aufträge in der Saison sukzessive zu, so sein Eindruck.

Von Kunden aus Magdeburg hört er häufig: Sie besinnen sich aufs Radfahren, um dem zähen Verkehr infolge der Baustellen aus dem Weg zu gehen. Nun bekommt dieser Trend offensichtlich noch mal einen Schub. Rund 40 Räder warten im Lager auf Reparatur oder Durchsicht. Wenn nicht gerade ein schnell zu behebender Notfall ansteht, kann Kriegel frühestens für Anfang Juni einen Termin anbieten.

Ranklotzen, das ist im Augenblick die Devise bei Kay Schulze, Geschäftsführer von Zweirad Schulze in Stendal. „Anderen Branchen geht es schlecht, wir sollten uns freuen, dass wir viel zu tun haben“, findet er. 600 Quadratmeter Verkaufsfläche hat der Laden, ihm und seinen elf Mitarbeitern wird nicht langweilig. „Die Verkäufe haben angezogen, ganz klar“, sagt er. Viele Familien kaufen ein. „Jetzt, wo den Menschen viele Aktivitäten versagt bleiben, zieht es sie raus in die Natur“, sagt der 43-Jährige. Für Reparaturen und Inspektionen gibt es noch keinen Stopp.

Nicht wenige Fachgeschäfte hatten sich auf ein problematisches Jahr eingestellt. Nach dem Corona-Ausbruch in Asien brachen Lieferketten zusammen. Zum Start in die Saison traten bundesweit Verordnungen zur Eindämmung der Pandemie in Kraft. Unterdessen herrscht in der Branche wieder Optimismus, sagt David Eisenberger vom Zweirad-Industrie-Verband (ZIV). Dass bei vielen der Fern-Urlaub ausfalle, sei ein Grund für den Run auf die Läden. „Die Menschen wollen an die frische Luft und den Lagerkoller bekämpfen.“ Zudem mieden viele den ÖPNV. Für Eisenberger ist das Fahrrad „das Verkehrsmittel der Stunde“. Der Verband hofft nun auf anhaltend gutes Wetter. Die Branche bibbert, dass kein neuerlicher Lockdown nötig wird. „Dann kommen wir mit einem blauen Auge davon“, sagt Eisenberger.

Ein Spitzenjahr dürfte es nicht werden. Einerseits seien bei den Händlern in den Schließzeiten Umsatzeinbußen eingetreten. Auf der anderen Seite hat die Branche die Latte ziemlich hoch gelegt. 4,3 Millionen Räder wurden 2019 verkauft. Deutschlandweit stieg der Absatz um mehr als drei Prozent. Wachstumstreiber waren erneut E-Bikes.

Mehr Radler – müssten die Kommunen da nicht auch bei der Infrastruktur nachbessern? „Auf jeden Fall“, findet Martin Hoffmann vom ADFC. Er hat jüngst im Namen mehrerer Bürgerinitiativen einen Brief an Verkehrsminister Thomas Weber (CDU) geschrieben. Nach dem Vorbild von Berlin, das sich zu einem Vorreiter bei der pandemiebedingten Verkehrswende entwickelt hat, möchte auch Hoffmann den Bau von temporären Radwegen beschleunigen. „Corona-sicher“ sollen die Menschen zu Rad und zu Fuß unterwegs sein. Mehr Platz brauche es, um den Sicherheitsabstand einhalten zu können. Nun müssten die Kommunen für die Umsetzung rechtliche Sicherheit erhalten, sagt der ADFC-Vorsitzende. Maßnahmen dieser Art gibt es laut Verkehrsministerium bislang nicht - auch nicht in den kreisfreien Städten Magdeburg, Halle und Dessau-Roßlau.

Eines ist gelungen: Für die Anschaffung von Lastenrädern hat das Land ein Förderprogramm auf den Weg gebracht. 300 000 Euro stehen in diesem Jahr bereit. Maximal 1500 Euro Förderung je Rad. Obgleich ein Nischenprodukt, hätten die Anfragen für Lastenräder zugenommen, sagt Händlerin Sandra Weis. Dann muss sie schon wieder entschwinden. Die Arbeit im Büro ruft, die nächsten Kunden warten schon.