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NeubauprojektGedenkstätte Isenschnibbe wird erneuert

Viele Menschen schauen interessiert auf die Neugestaltung der Gedenkstätte Gardelegen. Bauleiter Andreas Froese gibt Einblicke.

Von Donald Lyko 16.12.2018, 00:01

Gardelegen l Andere hätten sich den Start am neuen Arbeitsplatz sicher etwas ruhiger gewünscht, aber nicht Andreas Froese. Dass er sich als Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe in Gardelegen im Auftrag der landeseigenen Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt gleich mit einem Millionen-Neubauprojekt befassen muss und kann, hat ihn nicht abgeschreckt. Ganz im Gegenteil. „Die Konzeption eines Gedenkorts, an dem gleichzeitig ein neues Gebäude gebaut und eine neue Ausstellung erarbeitet werden, ist nur sehr selten möglich“, sagt der 39-Jährige.

Der Vorteil: Historiker, Architekten und Ausstellungsgestalter, in dem Fall ein Architekturbüro aus Berlin und eine Gestaltungsagentur aus Leipzig, können ihre Vorstellungen gemeinsam entwickeln und miteinander abstimmen. Im Gegensatz zu Ausstellungen in bereits vorhandenen historischen Gebäuden entstehen die Räume hier völlig neu. „Bundesweit und international schauen viele Menschen mit großem Interesse auf die Neugestaltung der Gedenkstätte Gardelegen“, sagt Andreas Froese.

Im künftigen Besucher- und Dokumentationszentrum wird es mehrere Fenster mit Sichtachsen nach draußen geben, die sich ideal an passender thematischer Stelle in die Ausstellung einbauen lassen. Etwa in die Blickrichtung nach Gardelegen, aus der die mehr als 1000 KZ-Häftlinge am 13. April 1945 auf einem Todesmarsch zur Isenschnibber Feldscheune getrieben und dort getötet wurden. Sie erstickten oder verbrannten in der Feldscheune oder wurden erschossen.

Derzeit wird das Dokumentationszentrum mit Zuwendungen des Landes Sachsen-Anhalt gebaut. Am Rande des Geländes der Gedenkstätte mit einem klaren Bezug zum historischen Tatort des Massakers. Denn der langgezogene Bau schmiegt sich entlang der früheren Straßentrasse von Gardelegen nach Lindstedt und begleitet damit die letzten Meter der einstigen Todesmarsch-Strecke von der Stadt zum ehemaligen Standort der Feldscheune. Im Innern des Gebäudes wird es einen langen Flur als Wandelgang geben, im Ausstellungsbereich Vitrinen und Infotafeln sowie dreidimensionale Exponate. Gezeigt werden sollen historische Textdokumente, Fotos und Filmaufnahmen. Auch eine sogenannte Graphic Novel, eine gezeichnete Darstellung der historischen Ereignisse vom April 1945 als Vermittlungsform, die bisher in Ausstellungen an Gedenkstätten noch selten zu sehen ist. Zudem sind ein Empfangstresen, Seminarräume für die Bildungsarbeit, ein Raum für Wechselausstellungen und Veranstaltungen und einer für die Dauerausstellung zum Massaker und seinen Nachwirkungen nach 1945 vorgesehen.

„Wir erzählen die Geschichte auf Basis des aktuellen Forschungsstandes und der überlieferten Quellen zu den historischen Tatsachen. Unser Blick wird bis ins Heute reichen“, kündigt Froese an. Auch um die Gedenkkultur zu DDR-Zeiten soll es gehen, die „wie eine zweite Zeitschicht über dem Gelände liegt“. Das müsse kenntlich gemacht werden. Ausstellung, Bildungsarbeit und Forschung thematisieren auch den Blick der alliierten Befreier auf das Massaker und die Zeugen- oder Mittäterschaft aus der lokalen Bevölkerung. Themen, da ist sich der Historiker sicher, die heute noch sehr bewegen. Um Information allein gehe es nicht. Ziel sei es auch, ein kritisches historisches Bewusstsein zu vermitteln. Froese: „Gedenkstätten möchten Besuchern Impulse geben, die zum selbstständigen Denken und Nachdenken anregen.“

Aus einem großen Panoramafenster des neuen Gebäudes ist künftig der Blick frei auf das große Gräberfeld auf dem Ehrenfriedhof. Dort gibt es ein aus Metall gefertigtes Gedenkbuch mit Namen von Opfern des Massakers. „Nur knapp ein Drittel der hier ermordeten KZ-Häftlinge ist namentlich bekannt“, sagt Froe­se. Es gehört zu seiner laufenden Forschungsarbeit, nach weiteren Namen und Identitäten der ermordeten Menschen zu recherchieren. Auch, weil pro Woche mindestens eine Anfrage von Hinterbliebenen von bis heute Vermissten eingeht, die wissen möchten, ob auch ihr Angehöriger in Gardelegen ermordet und bestattet worden ist. Oft meldet sich die Enkelgeneration, die beim Aufräumen auf Dachböden Fotos, Briefe oder niedergeschriebene Erinnerungen findet, die dann mehr erfahren oder der Gedenkstätte das Material zur Verfügung stellen möchte. So kam Andreas Froese jüngst zu bislang unbekannten Privataufnahmen, die ein US-Soldat gemacht hatte, als er sich dem frisch entdeckten Tatort in der Feldscheune am 15. April 1945 näherte.

Erst im September war der 39-Jährige in Paris, um im Französischen Nationalarchiv in den Aktenbeständen einer Kommission zu lesen, die nach dem Krieg europaweit nach Tatorten und Grabstätten getöteter Franzosen gefahndet hatte. Mit dem Lesen hat Andreas Froese kein Problem. Er spricht Englisch, Französisch, Polnisch, Tschechisch und Italienisch. „Sprachen lernen hat mir schon immer Spaß gemacht. Und für die Quellenarbeit kann ich das gut nutzen.“ Gelernt hat er die Sprachen meist bei Aufenthalten im Ausland. Nach der Schulzeit in Ravensburg studierte er Geschichte im Hauptfach sowie Politik und Wirtschaft in Konstanz, Rom und Prag. „Im Laufe des Geschichtsstudiums hat sich mein Interesse immer mehr vom Mittelalter ins 20. Jahrhundert verlagert.“ Parallel dazu habe er Gedenkstätten als Forschungs- und Bildungsorte entdeckt. Bei seiner studentischen Mitarbeit an ersten Ausstellungen beschäftigte er sich mit NS-Geschichte und mit der Bedeutung von Gedenkstätten.

Dort sah er seine berufliche Zukunft. „Die Arbeit an diesen Orten ist vielseitig, alles andere als langweilig.“ Er könne historisch forschen, habe aber immer auch den direkten Kontakt mit Besuchergruppen und mit vielen Akteuren vor Ort. Diese Mischung, „von allem etwas“ zu haben, mache die Arbeit in Gardelegen so besonders. Und die bewegenden Begegnungen mit Zeitzeugen der nationalsozialistischen Verbrechen aus aller Welt, mit Überlebenden und Familienangehörigen der nächsten Generationen. Nach dem Studium war Andreas Froese in der Gedenkstätte Buchenwald tätig, wechselte dann zur KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und weiter nach Berlin zur Stiftung Topografie des Terrors. Von Berlin aus habe er mit Interesse die Aufnahme der damals städtischen Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen in die Landesgedenkstättenstiftung Sachsen-Anhalt verfolgt, denn seine frühere Arbeit hatte ihn auch schon nach Gardelegen geführt.

Als die Trägerschaft der Gedenkstätte, deren Eigentümerin weiterhin die Hansestadt Gardelegen ist, 2015 auf die Landesgedenkstättenstiftung überging, bewarb sich Andreas Froese auf die Leiterstelle. Derzeit pendelt er zwischen seinem provisorischen Büro am Stiftungssitz in Magdeburg und einem Büro im Gardeleger Rathaus. Angekommen ist er in der Altmark trotzdem. In seinem ersten Sommer in Gardelegen hat er rund 500 Kilometer mit dem Fahrrad auf dem Altmarkrundkurs zurückgelegt: „In dieser Region gibt es noch viel zu entdecken.“ Wenn das Dokumentationszentrum fertig ist, bezieht er dort sein Büro. Mindestens drei Mitarbeiter soll es vor Ort in der Gedenkstätte Gardelegen geben, darunter einen Gedenkstättenpädagogen. Einen Termin für die Eröffnung gibt es noch nicht.

Mit der Neuausrichtung in der Gedenkstättenarbeit und mit dem Dokumentationszentrum soll Isenschnibbe „auf keinen Fall zu einem Elfenbeinturm werden“, sagt der 39-Jährige. „Es soll ein lebendiger, offener Lern- und Begegnungsort für Besucher sein.“ Die kommen sogar aus dem Ausland, etwa aus Polen, Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden und den USA. Er weiß um die internationale Bedeutung der Gardeleger Gedenkstätte, die weltweit als Synonym für die nationalsozialistischen Todesmarsch-Verbrechen steht. Und er weiß auch, dass viele Gedenkstätten in Deutschland in den vergangenen Jahren ein steigendes Interesse verzeichnen konnten. Froese sieht darin „ein gestiegenes Bedürfnis nach historischer Orientierung für Menschen, die Fragen an unsere Geschichte und Gegenwart haben. Wir befinden uns in einer Zeit, in der Gedenkstätten als glaubwürdige Instanzen vermehrt gefragt sind.“

Darum ist er dankbar, dass das Land Sachsen-Anhalt den Bau ermöglicht. Für die Zukunft ist ihm wichtig: Die Zivilgesellschaft nicht aus der Arbeit der Gedenkstätte zu verdrängen. Die Menschen also, die sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich um die Pflege einzelner Gräber kümmern. Diejenigen, die sich in den Vereinen der Region für eine lebendige Gedenkkultur engagieren. „Isenschnibbe ist kein vergessener Ort. Wer hier aufgewachsen ist, der kennt die Gedenkstätte.“ Wie sehr die Menschen in der Altmark mit ihr verbunden sind, hat sich im Januar 2017 gezeigt: Als die Aufnahme des Bauvorhabens in den Landeshaushalt kurzzeitig auf der Kippe stand, demonstrierten rund 300 Leute mit Kerzen dafür – bei winterlicher Kälte.