1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Ifa Haldensleben expandiert weltweit

Neues Werk Ifa Haldensleben expandiert weltweit

Automobilzulieferer Ifa Rotorion stellt die Weichen für die Zukunft: In einem neuen Werk in Polen werden Teile für Elektrofahrzeuge gebaut.

29.06.2017, 23:01

Ujest l Ein Stuhl mit weißem Stoffbezug. Erste Reihe vor dem Podium. Heinrich von Nathusius hört zu. Der Gründer des Haldensleber Automobilzulieferers sitzt am Donnerstagmittag im polnischen Ujest in der neu gebauten Halle des Unternehmens. Auf der Bühne spricht Robert Gutsche, der Mann, den von Nathusius im Frühjahr zum neuen Vorsitzenden der Geschäftsführung gemacht hat. Gutsche erzählt vor rund 200 Gästen, wie bedeutend die Ansiedlung von Ifa Rotorion für die polnische Region Schlesien ist. 100 Millionen Euro haben die Sachsen-Anhalter hier investiert. 500 Beschäftigte sollen in der Halle, die so groß ist wie drei Fußballfelder, einmal arbeiten. Spätestens in zwei Jahren will Ifa täglich 12 000 Seitenwellen in Ujest produzieren, das sind rund drei Millionen Stück im Jahr.

Gutsche richtet die Augen auf die erste Reihe und sagt: „Mein allererster Dank geht an die Eigentümerfamilie von Nathusius. Ohne ihre mutige unternehmerische Entscheidung, hier am Standort zu investieren, wären wir alle heute nicht hier.“ Das neue Werk in Polen ist für die Ifa-Gruppe, die Heinrich von Nathusius nach der Wende aufgebaut hat, ein Meilenstein. Der Antriebswellen-Spezialist erweitert durch den Neubau sein Produktportfolio. Die Seitenwellen öffnen für den Zulieferer die Tür zur Elektromobilität. Das ist ein Schritt in die Zukunft.

An diesem Tag ist ein Stück der Lebensleistung von Heinrich von Nathusius zu erkennen. In den vergangenen Jahrzehnten hatte er in Haldensleben den Grundstein für den internationalen Kurs gelegt, den Ifa Rotorion seit einiger Zeit einschlägt.

Für von Nathusius sind die Momente der Standort-Eröffnung auch Balsam auf die geschundene Unternehmer-Seele. Bei seinem Versuch, den Fahrradhersteller Mifa zu retten, war er gescheitert. Mittlerweile ist das Unternehmen aus Sangerhausen (Landkreis Mansfeld-Südharz) insolvent. Die Familie hat Millionen und an Ansehen verloren. Das schmerzt. Die Auswirkungen trafen auch Ifa Rotorion. Gutsches Vorgänger Felix von Nathusius musste Ende Januar die Firma verlassen. Das Unternehmen begründete den Schritt damit, künftig Familie und Management trennen zu wollen. Einige Beobachter berichteten aber auch von Meinungsverschiedenheiten zwischen Vater und Sohn wegen der Schieflage bei Mifa. Beide Erklärungen beinhalten vermutlich einen Teil der Wahrheit. Heinrich von Nathusius lässt die Vergangenheit an diesem Tag ruhen. Auf dem Podium sagt er mit fester Stimme: „Seit einer Generation leben Polen und Deutsche in einem gemeinsamen europäischen Haus. Es macht uns stolz, dass wir dazu beitragen können, dass dieses Haus auch in Polen lebendig wird.“

Die Menschen in der Gemeinde Ujest können die Entwicklung ihrer Region seit einigen Jahren vor der eigenen Haustür sehen. Das Industrie- gebiet an der Autobahn 4, die von Breslau nach Krakau führt, wächst rasant. Zahlreiche Firmen haben sich in den vergangenen Jahren angesiedelt, darunter auch Ifas Wettbewerber Mubea. Die Unternehmen locken niedrige Personal- und Energiekosten und auch Subventionen der Zentralregierung aus Warschau. Ifa Rotorion kalkuliert am neuen Standort mit Löhnen, die etwa bei einem Drittel des deutschen Niveaus liegen.

120 Mitarbeiter hat Ifa Rotorion in Polen bislang eingestellt. Viele sollen noch folgen. Ifa sucht Mechatroniker, aber auch Anlagenfahrer, Logistiker und Ingenieure. Fachkräfte gibt es durchaus.

Drei Technische Universitäten in Breslau, Oppeln und Gleiwitz sollen qualifizierte Mitarbeiter vorbringen. Werksleiter Peter Krautwurst erzählt, dass Ifa in den kommenden Jahren am Standort auch forschen wird. Bis zu 100 Ingenieure werden dafür benötigt. Krautwurst ist Pole. Seit Januar hält er in der Halle die Fäden in der Hand. Der 53 Jahre alte Automotive-Fachmann ist viel herumgekommen, arbeitete bereits für den Ifa-Konkurrenten GKN, ThyssenKrupp und Daimler. Krautwurst erzählt von der Aufbruchstimmung in Ujest. „Die Menschen sehen, dass wir ein modernes Werk gebaut und auch die Zukunft im Blick haben“, sagt er.

Um zu zeigen, wie sich die Fabrik in den kommenden Jahren entwickeln soll, deutet er auf einen Plan. Heute stehen rund 35 Maschinen in der Halle, in zwei Jahren sollen mehr als 300 Anlagen für die Tagesproduktion sorgen. „Durch die Fertigung von Seitenwellen machen wir uns unabhängig von der Antriebsart klassischer Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren“, erklärt Robert Gutsche. Elektroautos werden voraussichtlich keine Längswellen benötigen, dafür aber Seitenwellen, so Gutsche. Das ist heute schon abzusehen: US-Elektroautobauer Tesla, tonangebend bei der Entwicklung leistungsstarker Elektromobile, baut seine Autos ohne Längswelle. Stattdessen sorgen vier Seitenwellen für die Kraftübertragung von den Elektromotoren auf die Räder. Gutsche, Jahrgang 1966, hat als CEO bei Ifa Rotorion viel vor.

Bis 2021 will er mit dem Mittelständler aus der Börde die 800-Millionen-Euro-Marke beim Umsatz knacken. Der Weg ist weit, aber Ifa wächst: Im vergangenen Jahr meldete das Unternehmen ein Umsatzplus von zwölf Prozent auf 565 Millionen.

Um seine Vision zu erreichen, wird Gutsche etwas von der alten Unternehmensphilosophie von Heinrich von Nathusius zerstören müssen. Der Firmengründer hatte das Unternehmen patriarchisch geführt. Gutsche will die Verantwortung lieber verteilen. Bei von Nathusius hatte der Heimat-Standort in Haldensleben Priorität. Gutsche wird das Unternehmen noch internationaler aufstellen müssen, um mit dem Tempo der Autohersteller Schritt halten zu können.

Polen ist dafür nur ein Beispiel. Derzeit laufen in der Ifa-Chefetage die Planungen für einen neuen Standort auf Hochtouren. In Mexiko will die Firma schon ab 2019 Gelenkwellen produzieren. Nördlich von Mexiko-Stadt soll das neue Werk gebaut werden. 25 Millionen Euro werden investiert. Im Gegensatz zum neuen Werk in Ujest, wo Ifa eine Komplett-Fertigung gebaut hat, sollen in Nordamerika die Wellen nur montiert werden. Auch im US-amerikanischen Charleston (Bundesstaat South Carolina) lässt Ifa ein neues Werk bauen. Bisher hatte das Unternehmen am Standort eine Halle von Daimler gemietet. Doch die Stuttgarter wollen das Gebäude nun selber nutzen.

In Sachsen-Anhalt betrachtet die Gewerkschaft IG Metall den zunehmenden internationalen Kurs des Zulieferers mit Sorge. In Haldensleben sind derzeit rund 1800 der weltweit 2500 Ifa-Beschäftigten tätig. Die Gefahr, dass Ifa in den kommenden Jahren einen gewissen Anteil der Produktion in Billig-Länder verlagert, besteht.

Intern geht der Zulieferer bereits davon aus, dass in der Heimat die Zahl der Mitarbeiter langfristig auf rund 1500 schrumpfen könnte. Ifa wird zu diesem Kurs getrieben: Fast alle großen Hersteller verbauen die Wellen der Sachsen-Anhalter in ihre Fahrzeuge. BMW, Daimler, Volkswagen, General Motors und Co. drehen gnadenlos an der Kostenschraube. Fast jedes Jahr versuchen Vertreter der Konzerne bei den Zulieferern ein, zwei Prozent herauszuschlagen und die Effizienz zu steigern.

In Ujest ist seit Donnerstag das modernste Werk innerhalb der Ifa-Gruppe am Netz. Die Standort-Manager haben lange an dem Plan für den Aufbau der Maschinen gefeilt, um die Halle so effizient wie möglich auszulasten. In den nächsten Tagen werden am neuen Werk erneut die Bagger anrücken. Direkt an die bestehende Fabrik wird der Zulieferer eine weitere Halle bauen, 20 000 Quadratmeter groß.

Ifa plant in Ujest bald auch Längswellen zu fertigen. Die Bedeutung der Haldensleber Heimat als Produktionsstandort dürfte dann weiter schwinden.