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Hochverschuldet und ohne festen Wohnsitz leben mehrere hundert Menschen in Sachsen-Anhalt auf der Straße. Von Matthias Fricke Obdachlos: Leben am Ende einer langen Talfahrt

04.01.2013, 01:19

In Deutschland muss niemand auf der Straße leben. Theoretisch. Praktisch gibt es auch in Sachsen-Anhalt Menschen "ohne festen Wohnsitz". Die meisten leben in Halle und Magdeburg. So wie Hannelore Riemann und Peter Piontek. Sie lernten sich am Ende einer langen Abwärtsspirale auf einer Parkbank kennen.

Magdeburg l Das Gesicht von Hannelore Riemann ist gezeichnet von schlaflosen kalten Nächten, Alkohol und Trauer. Einer dieser drei Wegbegleiter ist irgendwie immer präsent. Die 56-Jährige steht am Ende eines Weges, der für sie bisher immer nur nach unten führte.

Schon als 17-Jährige gerät ihr Leben das erste Mal aus den Fugen. Die gebürtige Ermsleberin (heute Harzkreis) arbeitet als Krankenhaus-Stationsgehilfe. Die Fehlstunden häufen sich, irgendwann geht sie gar nicht mehr zur Arbeit. Sie lebt auf der Straße. Zu DDR-Zeiten ist das ein Straftatbestand. Von 1973 bis 1976 muss sie deshalb "wegen asozialen Verhaltens" in den Jugendarrest.

"Er ließ sich am Kiosk volllaufen und sagte, ich soll verschwinden. Das habe ich mir nicht zweimal sagen lassen."

Obdachlose Hannelore Riemann

Der Kontakt zu den Eltern bricht ab. "Meine Schwester hat immer alles bekommen", erinnert sie sich an einen der Gründe. Die wahren Ursachen dürften viel tiefer liegen. Sie sind verdrängt, spielen für sie aber keine Rolle mehr.

Mit 23 Jahren zieht die junge Frau nach Staßfurt im heutigen Salzlandkreis, arbeitet in einer Wäscherei und lernt ihren ersten Mann kennen.

Ihr Leben scheint sich kurz zu stabilisieren: Sie heiratet mit 31 Jahren und wird zwei Jahre später Mutter. Doch als diese ist Hannelore Riemann nach Ansicht der Behörden völlig überfordert, so dass ihre Tochter im Heim aufwachsen muss. Inzwischen ist das Mädchen 23 Jahre alt und bei der Bundeswehr. Einen Kontakt gibt es nicht mehr.

Mit 35 Jahren erreicht ihr Leben einen neuen Tiefpunkt. Sie zieht mit ihrem damaligen Mann, ein Trinker, nach Magdeburg. Heute meint sie: "Er ließ sich am Kiosk in der Neuen Neustadt mit Bier und Schnaps volllaufen und sagte, ich soll verschwinden. Das habe ich mir nicht zweimal sagen lassen."

Noch am gleichen Tag lernt sie ihren zweiten Mann auf dem Hauptbahnhof kennen. Beide beziehen eine Wohnung, erst auf dem Werder, dann in Brückfeld. Immer irgendwie am Rande des Existenzminimums. Arbeit haben beide ohnehin nicht. 1998 setzt sie der Gerichtsvollzieher wegen Mietschulden vor die Tür.

Wieder mal ganz unten, lebt Hannelore Riemann auf der Straße oder im Obdachlosenheim Buckau. Hier heiratet sie im Jahr 2000 erneut. Ein Kleid ist nicht drin. Der weiße Pullover kommt aus der DRK-Kleidersammlung. Ihr Mann Peter Riemann trägt dafür einen Anzug, den er aus dem gleichen Fundus bekommt. Kurze Zeit später erhält das Obdachlos-Paar eine neue Chance und eine Wohnung in der Alten Neustadt.

Doch der Alkoholkonsum fordert zumindest bei ihrem Mann Peter seinen Tribut. Er verstirb an Leberzirrhose. Das ist im Jahr 2011. Heute sagt sie in Tränen ausbrechend: "Das war vier Tage vor meinem Geburtstag."

Wieder ist sie ganz unten.

Allein gelassen, verlässt sie die Wohnung, irrt umher und schläft auf der Straße. Die Parkbänke rund um die Otto-von-Guericke-Universität sind nun ihre neue Heimat.

Das Leben empfindet sie als unerträglich, sie ertränkt ihren Kummer im Alkohol. Zwei Flaschen "Pfeffi" am Tag gehören zum Grundnahrungsmittel.

In dieser Situation trifft sie auf ihren "neuen" Peter. Der 55-Jährige hat einen ähnlichen Lebenslauf. Auch er befindet sich am Ende einer langen nicht enden wollenden Talfahrt.

Der 55-Jährige hat die Sonderschule für Lernbehinderte in Magdeburg abgeschlossen und Gleisbauer bei den MVB gelernt. Bis 1981 wohnte er bei seinen Eltern. Kurz nach der Wende verlor er den Job und somit begann auch seine Abwärtsspirale. 1992 wurde er zum Sozialfall und blieb es auch. Zunächst wohnte er in der Altstadt in einer Ein-Raum-Wohnung.

"Im Männer-Obdachlosenheim bin ich schon so oft beklaut worden, da will ich nicht mehr hin."

Obdachloser Peter Piontek

Ihm fiel immer häufiger die Decke auf den Kopf. Der Freundeskreis hielt sich in Grenzen. 1998 zog er in ein sanierungsbedürftiges Hinterhaus in der Alten Neustadt. In der Annahme, das Sozialamt würde schon alles regeln, zahlte er keine Miete. Geld hatte er aufgrund des mangelnden Einkommens ohnehin nicht.

Dafür half ihm immer häufiger der Alkohol alles auszublenden, was mit seinem verkorksten Leben zu tun hat. Immer wieder begann er eine Entziehungskur in verschiedenen Kliniken, doch geholfen hat sie nie. 2004 landete er auf der Straße, schlägt sich von Parkbank zu Parkbank durch. Er blieb aber in Magdeburg. Seine "Grundsicherung" ließ er sich jede Woche bar auszahlen.

Nun sitzen Hannelore und Peter verliebt gemeinsam auf der Parkbank vor der Festung Mark. Es wirkt ein wenig so, als hätten sich zwei Ertrinkende gefunden, die trotzdem weiter sinken. Beide sind in dicke Decken eingehüllt und trinken, in erster Linie, um die Kälte nicht zu spüren.

Manchmal auch ein bisschen mehr. "Aber nicht mehr ganz so viel wie früher", schwört Peter. Er mache es für seine Freundin. Kürzlich hat er sogar auf eine Flasche Korn verzichtet und ihr eine rote Rose gekauft. Hannelore zeigt sich gerührt.

Beide wünschen sich nichts lieber als eine Wohnung. Doch beide wissen, dass sie es nie allein schaffen würden. Außerdem hat Hannelore Angst, zurück ins Obdachlosenheim zu gehen. Dort will sie nicht hin. Sie werde dort von einem anderen Mann bedroht, sagt sie. Und auch Peter möchte nicht ins Heim. "Da bin ich schon so oft beklaut worden", sagt er. Renate Schwarz, Koordinatorin für Obdachlose der städtischen Gesellschaft AQB in Magdeburg, sagt: "Beide Aussagen hören wir leider sehr häufig."

So sitzen beide in der eisigen Nacht in dem Park vor der Festung Mark und schlafen am frühen Abend ein. Erst als vier Mitarbeiter des Ordnungsamtes und ein Sozialarbeiter vor ihnen stehen, hat das Freiluftübernachten ein Ende. Sie sagen, dass die Nächte zu kalt sind. Erst vor gut einem Jahr ist ein Obdachloser auf einer Parkbank erfroren. "Das soll sich so schnell nicht wiederholen", sagt Stadtordnungsdienstchef Gerd vom Baur. Aus diesem Grund reagiere man sensibel.

Das Paar darf gemeinsam in die Magdeburger Familienunterkunft Buckau einziehen. Hier kümmern sich nicht nur Sozialarbeiter um sie. Hannelore Riemann erhält einen gerichtlich bestellten Betreuer. Auch Peter Piontek hat gerade einen Brief vom Amtsgericht erhalten. Vielleicht ein Ansatz auf dem Weg, raus aus der ewigen Abwärtsspirale. Denn feststeht: Beide haben inzwischen mit Zinsen angehäufte Mietschulden in Höhe von mehreren tausend Euro. Eine Privatinsolvenz hat es angesichts des permanenten Lebens "auf der Flucht" nie gegeben. "Das alles muss jetzt erst einmal geregelt werden", erklärt Renate Schwarz. Sozialarbeiter aus dem Obdachlosenheim kümmern sich darum.

"Es gibt genug Hilfsangebote. Wohnungslos sind deshalb aber trotzdem viele."

Alexandra Rießler, Magdeburger AQB

Der Neujahrswunsch des Paares nach einer Wohnung dürfte dennoch weit entfernt liegen. Nicht einmal die städtische Wohnungsbaugesellschaft Magdeburg wird ihnen wegen der Mietschulden so schnell eine Wohnung geben. Denn, selbst wenn die Betroffenen eine Abtretungserklärung im Sozialamt unterzeichnen und die Miete von dort direkt an den Vermieter überwiesen wird, kann das auch jederzeit wieder rückgängig gemacht werden.

Matthias Schenk von der Städtischen Wohnungsbaugesellschaft (Wobau) aus Magdeburg drückt sich vorsichtig aus: "Mietschulden sind zwar kein genereller Grund, eine Wohnung zu verwehren, wir führen aber schon intensive Gespräche, wenn die Schufa eine negative Auskunft gibt. Wir sind zur Prüfung eines jeden Einzelfalls bereit."

Alexandra Rießler, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Gesellschaft "AQB" (Betreiberin unter anderem der Magdeburger Tafel): "Es gibt viele Hilfsangebote. Obdachlose wird es trotzdem weiter geben."