Richter warnen Personalmangel bei der Justiz
Gerichte verhandeln nur bis halb vier, am Eingang wird nicht kontrolliert: Richter in Sachsen-Anhalt schlagen Alarm und fordern mehr Personal.
Magdeburg (dpa) l Man stelle sich vor: bei einer Gerichtsverhandlung springt der Angeklagte wutentbrannt auf, läuft auf den Richtertisch zu und droht, den Vorsitzenden Richter tätlich anzugreifen. Der Richter drückt einen Alarmknopf, um zusätzliche Sicherheitsbeamte in den Saal zu rufen. Doch es passiert nichts – weil keine Wachtmeister da sind. Markus Niester, Vorsitzender des Richterbundes in Sachsen-Anhalt, hält ein derartiges Szenario angesichts des herrschenden Personalmangels für realistisch.
"Der Mangel an Wachtmeistern ist gravierend", sagt Niester. An vielen Amtsgerichten sei zum Beispiel keine flächendeckende Einlasskontrolle mehr möglich. "Da können Sie rein- und rausgehen wie Sie wollen und keiner achtet darauf." Anderswo können Gerichte am späten Nachmittag nicht mehr verhandeln. "Gerichtsverhandlungen müssen bis 15.30 Uhr beendet sein", berichtet Christian Löffler, Sprecher des Landgerichts Magdeburg. Danach ist kein Wachtmeister mehr da, um die Öffentlichkeit der Sitzung sicherzustellen. Niester sagt dazu: "Wir würden gern länger verhandeln, wenn Leute da sind, die die Tür offen halten."
Doch es fehlt nicht nur an Sicherheitspersonal. "Es drückt auf allen Ebenen", sagt die Justizexpertin der Linkspartei, Eva von Angern. Ihre Fraktion hat das Thema auch im Landtag zum Thema gemacht. "Der Unmut ist gewachsen", sagt von Angern.
Allein am Landgericht Magdeburg fehlen nach Löfflers Angaben derzeit fünf Richter. Die Folge: Verfahren ziehen sich in die Länge, neue können erst mit Verzögerung eröffnet werden. Das kann ernste Konsequenzen haben. "Wenn jemand in Untersuchungshaft sitzt, muss zeitnah der Prozess beginnen", erklärt Niester. Ist das nach sechs Monaten noch immer nicht passiert, muss der Verdächtige auf freien Fuß gesetzt werden – auch wenn er dringend tatverdächtig ist. Zwar habe es solche Fälle in Sachsen-Anhalt bisher nicht gegeben, anderswo in Deutschland aber schon. "Wir sind dabei Fehler zu machen, die andere Bundesländer gerade korrigieren."
Das Justizministerium räumt auf Nachfrage ein, dass es an einigen Gerichten "offene Bedarfe" gebe. Insgesamt sei jedoch ausreichend Personal vorhanden – das Problem sei die Verteilung. Unterbesetzung an einzelnen Standorten habe man bislang versucht durch die Zuweisung von Proberichtern auszugleichen. Neueinstellungen seien aber nur begrenzt möglich. Richter sollten deshalb freiwillig an anderen Standorten aushelfen. Vorschreiben kann man ihnen das aber nicht.
Für Unmut unter den Richtern sorgt vor allem das System, nach dem der Personalbedarf berechnet wird. "Jeder Aufgabe wird eine Minutenzahl zugeordnet – für eine Strafsache gibt es zum Beispiel 157 Minuten", sagt Niester. Also gerade einmal rund zweieinhalb Stunden für das ganze Verfahren, von Anklage über Beweisaufnahme bis zum Urteil. "Viele sagen, dass ist viel zu wenig Zeit." Hinzu komme, dass die Landesregierung nicht mehr für 100 Prozent der berechneten Zeiten Richter vorhalten wolle. Niester spricht von der Zielmarke "90 Prozent plus X". Das Justizministerium weist das zurück. Die Personalplanung richte sich nach den ermittelten Bedarfen.
Lange Verfahren können aus Sicht des Richterbundes mitunter auch geringere Strafen für die Angeklagten bedeuten. "Je länger ein Verfahren dauert, desto geringer wird das Strafmaß", sagt Niester. Der Grund: Zieht sich der Prozess lange hin, gilt das als belastend für den Angeklagten und wird deshalb beim Strafmaß berücksichtigt.
Linke-Justizexpertin von Angern fürchtet zudem, dass sich die Situation weiter verschärfen könnte, wenn wie im Haushalt vorgesehen demnächst mehr Polizisten eingestellt werden. Wird mehr ermittelt, landen schließlich auch mehr Fälle bei der Justiz. Auch Niester fordert: Wer die Polizei verstärke, müsse auch die Gerichte verstärken. "Das ist wie beim Fußball: Es fängt mit der Abwehr an, aber vorne muss irgendjemand die Tore machen."
Das Justizministerium geht indes nicht davon aus, dass sich die geplanten Neueinstellungen bei der Polizei negativ auf die Justiz auswirken. Es sei denkbar, auch der Justiz für 2017 und 2018 zusätzliches Personal zuzugestehen. "Die Entscheidung liegt jedoch beim Landtag", sagt ein Sprecher.
Der Justizausschuss hat jüngst eine Anhörung von Betroffenen beschlossen. Mitte Februar sollen Vertreter von Richterbund und Präsidenten der Landgerichte vor dem Ausschuss von der Situation an den Gerichten berichten. Von Angern: "Ich hoffe, dass sie Klartext reden und nichts beschönigen."