1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Punkteschlacht der jungen Dichter

Poetry Slam Punkteschlacht der jungen Dichter

Fast jede Woche liefern sich irgendwo in Sachsen-Anhalt Dichter einen Wettstreit.

Von Elisa Sowieja 17.06.2016, 01:01

Magdeburg l Vor einer viertel Stunde sollte es eigentlich losgehen. Doch die Schlange auf der Treppe im Café Central reicht noch bis runter zur dritten Stufe. An ihr vorbei huschen immer wieder Kellner, die mehr Stühle nach oben bringen. Gleich ist die Etage bis auf ein Bühnen- und ein Kassen-Eckchen vollgestellt, rund 70 Zuschauer passen dann irgendwie hier rein. Ein ungewohntes Bild für einen Donnerstagabend in Magdeburg. Vor allem, wenn man bedenkt, dass fast all diese Leute die Künstler, deretwegen sie hier sind, gar nicht kennen.
Auf dem Programm steht ein Regio Slam – eine Form der Poetry Slams, die der Hallenser Verein HALternativ in Sachsen-Anhalt und drei weiteren Bundesländern organisiert. Dabei tragen Dichter ihre Texte vor und werden dafür vom Publikum bewertet. Ob in Magdeburg, Wernigerode, Dessau oder Halle – irgendwo gibt‘s hierzulande fast jede Woche solch einen Wettstreit.
Der Regio Slam ist die kleine Version und vor allem eine Bühne für Anfänger. Bei den großen Wettbewerben ist nicht nur Platz für 70 Zuschauer, sondern für ein paar Hundert. Besonders der „Wortwäsche Slam“ im Magdeburger Moritzhof ist in der Regel proppenvoll.
Kurz vor halb neun geht‘s im Central los. Ein lässiger Typ mit Vollbart und Schiebermütze führt durch den Abend. Als erstes erklärt er die Regeln: Jeder hat sechs Minuten Zeit; die Texte müssen selbstgeschrieben sein; Hilfsmittel sind verboten. Danach werden nach dem Zufallsprinzip im Publikum Punktetafeln verteilt, jedes Set besteht aus den Zahlen von eins bis zehn. Als er dann noch fix mit den Zuschauern geübt hat, wie man für eine Zehn klatscht, ist auch schon die erste Wortakrobatin dran.
Janne. Anfang 20, kastanienbraunes Haar, natürlicher Typ. Mit einem zurückhaltenden Lächeln stellt sie sich ans Mikro. Dann macht sie sich nackt. Janne liefert einen Seelenstriptease über eine Affäre, die es nicht zu einer Beziehung schafft. Weil beide Angst haben, Gefühle zuzulassen. Und weil es noch eine Dritte im Bunde gibt. Fast wie einen Rap trägt sie ihren Text vor, mal schnell, mal langsam, immer mit viel Gefühl. „Ich schreib kein dummes Liebesgedicht“, sagt sie wieder und wieder – in ihrem Liebesgedicht.
Die sanfte, leicht kratzige Stimme erinnert sehr an Julia Engelmann. Die Bonnerin hat einen Bären-Anteil daran, dass Poetry Slams in den vergangenen Jahren deutschlandweit so populär geworden sind. Vor drei Jahren performte sie in einem Bielefelder Hörsal „Eines Tages, Baby“ – einen Text über verpasste Chancen im Leben.
Das Video wurde in den nächsten Monaten millionenfach auf Facebook geteilt und geklickt. Das gleichnamige Buch, das die heute 24-Jährige daraufhin herausbrachte, schaffte es auf die Spiegel-Bestseller-Liste.
Volltreffer. Als Jannes letzter Vers verklungen ist, klatscht und jubelt die Menge wie bei der Übung mit dem bärtigen Schiebermützenträger. Dann gehen die Punktetafeln hoch. Zweimal eine Zehn sahnt sie ab, weniger als sieben Punkte gibt keiner.
Und das, obwohl Janne erst zum dritten Mal bei einem Slam startet. „Ich schreibe schon seit Jahren Gedichte und Liedtexte über Dinge, die ich erlebe. Aber früher hatte ich nie die Möglichkeit, aufzutreten“, erzählt die 21-Jährige, die mit vollem Namen Janne Stricker heißt, in einer ruhigen Minute. Das änderte sich erst, als sie fürs Studium von Lübeck nach Magdeburg zog.
Bei den Regio Slams darf jeder mitmachen, erklärt Vereinschef Tobias Glufke. Castings gibt es keine, Bewerber müssen nicht mal Texte einreichen. Es gilt: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Zum Inhalt macht der Verein nur eine Vorgabe. Extremistisches ist verboten. Hat Glufke bei dieser Auswahlmethode denn keine Angst vor vielen schlechten Texten auf der Bühne? „Es gibt keine schlechten Texte“, antwortet er bestimmt. „Jeder hat mal angefangen. Wir wollen, dass sich die Teilnehmer entwickeln.“
Während bei den großen Slams auch mal ein Professor in Rente auftritt, startet beim Regio Slam in der Regel durchweg Jungvolk: zwischen 16 und 30 Jahre alt sind die Teilnehmer, die meisten studieren oder gehen noch zur Schule. Ähnlich ist es beim Publikum.
Entsprechend fallen an diesem Abend Themen- und Sprachwahl aus: „Die Abgefuckte“ heißt der Text von Alicia über eine junge Mutter, die ständig ihren Kummer in Alkohol ersäuft. Emilia sinniert über den Unsinn von Faustregeln bei der Partnersuche. Ein Typ, der sich Paralu nennt, lästert mit bitterbösem Humor über eine rempelnde Rentnerin im Supermarkt. Und Paula heult sich mit einem Augenzwinkern darüber aus, wie hart doch ihr Full-Time-Job als Tochter ist.
Nur Marius fällt aus der Reihe. Er trägt einen Prolog vor, dem vier metapherngespickte Szenen folgen; Thema: das Leben; Gemeinsamkeit: Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Schwere Kost, die nur zu verdauen in der Lage ist, wer sehr konzentriert zuhört.
Am Ende der ersten Runde zeigt Punktevergleich: Liebe und Comedy ziehen am besten. Ins Finale schaffen es Paula, Emilia und Janne.
Wer sich hier gleich durchsetzt, auf den wartet nicht etwa ein Büchergutschein oder gar ein Scheck. Hauptpreis ist ein Jutebeutel, der zuvor im Publikum rumgegangen ist. Gängiger Inhalt: Hustenbonbons, Knöpfe, Kondome, Kassenbons,?... Heute steckt im Beutel sogar eine Gabe von vergleichsweise beträchtlichem Wert – eine Flasche Pfeffi. Eine volle. Eigentlicher Gewinn ist allerdings etwas anderes. Der Sieger darf beim nächsten „Wortwäsche Slam“ starten – gegen erfahrene Dichter aus ganz Deutschland, von denen einige extra vom Veranstalter gebucht sind.
Janne durfte dort schon einmal antreten, denn gleich bei ihrem ersten Regio Slam hatte sie gewonnen. In die Finalschlacht um den zweiten Sieg zieht sie mit einem Gedicht über Ironie. Wieder etwas Nachdenkliches, diesmal aber mit Humor gespickt. Wieder aus dem eigenen Leben, doch diesmal geht‘s nicht nur um Liebe. Ironie, philosophiert Janne, ist, dass sie unbezahlt in einer insolventen Bar jobbt: „Ich arbeite so richtig viel mit dem einen großen Ziel: dass ich pleite bin.“ Oder das Ergebnis der Landtagswahlen: „Es ist ironisch, dass fast 25 Prozent eine Alternative wählen, die gar keine ist.“
Wieder ein Volltreffer. Am Ende überreicht ihr der Mann mit der Schiebermütze feierlich den Jutebeutel. Ums Siegen, sagt Janne später, geht‘s ihr eigentlich gar nicht. „Ich habe die Hoffnung, dass ich, wenn ich mich auf der Bühne zum Deppen mache, mindestens einen Menschen berühre.“ Geht man nach dem Siegerapplaus, dürften es diesmal um die 70 gewesen sein.