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Geschichte Als Stendal der Atom-Riese erspart blieb

Stendal in der Altmark sollte die Atom-Hauptstadt der DDR werden. Doch daraus wurde nichts. Das Kernkraftwerk wurde abgewickelt.

Von Steffen Honig 10.06.2021, 05:00
Am 29. Oktober 1999 wurden die  Kühltürme im ehemaligen Kernkraftwerk Stendal gesprengt.
Am 29. Oktober 1999 wurden die Kühltürme im ehemaligen Kernkraftwerk Stendal gesprengt. Foto: Frank Riedel

Magdeburg - Rums – da waren sie weg, die Kühltürme des Kernkraftwerkes Stendal. Sie hatten nie etwas zu kühlen und wurden folgerichtig 1999 gesprengt. Der Komplex bei Arneburg war das größte Atom-Vorhaben der DDR. So war der Fall der Türme auch ein symbolischer Schlussakkord der Nuklearwirtschaft im Osten Deutschlands.

Den immer verschlossenen Wirtschaftszweig nimmt jetzt die ZDF-Dokumentation „Die sieben geheimen Atompläne der DDR“ ins Visier. Zwei Handlungsorte liegen mit dem KKW Stendal und dem Atomendlager Morsleben in Sachsen-Anhalt. Die anderen Verschlusssachen sind der Uranabbau im Erzgebirge, das KKW Lubmin bei Greifwald, der Forschungsreaktor Rossendorf bei Dresden sowie die DDR-Friedensbewegung gegen die Atomrüstung und die Verdrängung der Tschernobyl-Katastrophe von 1986.

In Stendal begannen die Arbeiten 1974. Nicht nur ein Vier-Reaktoren-Kraftwerk auf der Basis sowjetischer Technik sollte entstehen, sondern auch neue Wohngebiete, Stendal-Stadtsee mit einem eigenen Bahnhof und Stendal-Süd, wurden gebaut. Die Hälfte der Wohnungen, rund 6000, wurde nach der Wende abgerissen.

Ein Bau ohne komplettfertiges Projekt

Im Film, dem historische Aufnahmen und Berichte von Zeitzeugen reichlich Authentizität verleihen, berichtet Ingenieur Horst Paulus über die größte Achillesferse des Bauvorhabens an der Elbe: die rollende Projektierung. Das heißt, es gab keine fertige Planung, sondern aus der Sowjetunion flatterten ständig neue Unterlagen herein.

Die mussten übersetzt und auf den Stand der Bauarbeiten abgestimmt werden. Improvisationskunst, diese Ur-DDR-Tugend, war auch im künftigen Atomkraftwerk an der Elbe unerlässlich. Die Kosten waren mit zehn Milliarden DDR-Mark angesetzt worden. Doch sie verdoppelten sich bereits während der Bauzeit.

Geplant waren vier 44o-Megawatt-Reaktoren, später wurde dies zugunsten von zwei 1000-MW-Blöcken neuerer Baurat mit Kühlturmrückkühlung geändert.

Außerdem wurden Fachkräfte aus der Bundesrepublik angeheuert. Welch eine Groteske: Bei diesem Prestigeprojekt der sozialistischen ökonomischen Integration wurden westdeutsche Experten „eingeschleust“, um es mit allen notwendigen technischen Parametern bei erfüllten Sicherheitsstandards fertig zu bekommen.

Westdeutsche Expertenspeisten separat

Natürlich sollte davon außer den direkt Beteiligten wie Paulus möglichst niemand wissen: „Wenn die Essenszeiten im Werkrestaurant vorbei waren, durften wir mit ihnen an einen Sondertisch. Damit ja von den Bauarbeitern keiner Kontakt zu ihnen bekam“, sagt der Ingenieur heute schmun- zelnd.

Das westdeutsche Interesse an einem sicheren Atomkraftwerk war nicht nur geschäftlicher Natur: Wenige Kilometer von der Grenze zwischen dem Bezirk Magdeburg und Niedersachsen entfernt, hätte jede größere Havarie in Stendal unweigerlich auch für die Bundesrepublik katastrophale Folgen gehabt.

Nach dem Tschernobyl-Unglück, das in die Bauzeit des altmärkischen Meilers fiel, wurden die Sicherheitseinrichtungen neu überdacht. Kernkraftgegnern wie Umweltaktivist Malte Fröhlich reichte dies nicht. „Ich hatte Angst vor dem Atomkraftwerk Stendal“, bekennt er vor der Kamera. Damit war er nicht allein. Nur wurde jeder Protest, ehe er massenwirksam werden konnte, von den DDR-Organen unterdrückt. Das änderte sich erst in der Wendezeit, wo sich der Widerstand gegen den gigantischen Atommeiler lautstark artikulierte.

Ex-Bundesumweltminister Klaus Töpfer hat sich nach der deutschen Einheit mit der Zukunft der ostdeutschen Atomanlagen beschäftigt. Die Kraftwerke Lubmin und Rheinsberg wurden abgeschaltet, die Wismut-Bergwerke stillgelegt. „Wir brauchen Techniken, die globalisierungsfähig sind, lernende Verfahren“, resümiert Töpfer seinen Atom-Erfahrungen. Für das Kernkraftwerk Stendal, das nach ursprünglichen Planungen im Jahr 2000 ein Fünftel des DDR-Energiebedarfes decken sollte, erfolgte 1991 ein Baustopp. 1993 wurde die Investitionsruine endgültig geschlossen. Auf dem Gelände produziert heute eines der größten Zellstoffwerke Deutschlands.

„Die sieben geheimen Atompläne der DDR“ haben Matthias Hoferichter und Andreas Vennewald ins Bild gesetzt. Die TV-Dokumentation läuft erstmals am 14. Juni um 20.15 bei ZDFinfo.

   Ganz vorn in der Baustellenchronik des KKW Stendal steht  der offizielle Start des Vorhabens am 9. Mai  1974.
Ganz vorn in der Baustellenchronik des KKW Stendal steht der offizielle Start des Vorhabens am 9. Mai 1974.
Foto: Doreen Schulze