Brexit Riskanter Präzedenzfall für EU
Am 23. Juni entscheiden die Briten über den Austritt aus der Europäischen Union. Die Folgen für beide Seiten wären schmerzhaft.
Magdeburg l Das Hauptargument der Brexit-Befürworter aller Schattierungen ist finanzieller Natur. Als drittgrößter Nettozahler würde Großbritannien – trotz des sattsam bekannten Briten-Rabatts – nur daraufzahlen für die EU. Außerdem würden EU-Bürger aus anderen Staaten die britischen Sozialsystme ausbeuten. Und dann ist da die Regulierung aus Brüssel für alles und jedes, durch Leute, die nicht einmal dafür legitimiert sind. Folglich müsste die nationale Souveränität zurückerlangt werden.
Wenn die EU-Gegner obsiegen, würde ein Mechanismus in Gang kommen, den es bisher nicht gab: Alles, was Großbritannien bisher mit der Europäischen Union verbindet, muss neu bewertet und verhandelt werden: Wie ist das etwa mit den Visumfragen? Ist die Sicherheit gefährdet, weil der Informationsaustausch über Terrorbedrohung hakt?
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Am gravierendsten jedoch wären die wirtschaftlichen und finanziellen Folgen. Es müssten schnell Nachfolgeregeln als Ersatz für die Einbindung in den Binnenmarkt her. Dafür sieht Artikel 50 des EU-Vertrages vor, dass die EU-Kommission mit London einen Vertrag aushandelt, der die künftigen Beziehungen zwischen beiden Seiten regelt.
Zwei Varianten wären denkbar: Großbritannien schließt nach dem Beispiel der Schweiz bilaterale Abkommen mit der EU ab, Dienstleistungen wären jedoch ausgenommen. Dies erscheint eher unwahrscheinlich.
Eher möglich wäre das norwegische Vorbild: Großbritannien würde dann nicht an der Agrar-, Fischerei- und Regionalpolitik teilnehmen, aber den Regeln für Beschäftigung und für Finanzdienstleistungen unterliegen. Nachteil: Auf die Regeln hätten die Briten keinen Einfluss mehr. In zwei Jahren, so sieht es der Fahrplan vor, sollen bei einem Entscheid für einen Brexit die wie auch immer gearteten Neuregelungen für die Zusammenarbeit zwischen Großbritannien und der EU festgezurrt sein.
Doch könnte es auch passieren, dass sich die europäischen Verhandler aus Ärger über den britischen Alleingang sehr viel mehr Zeit lassen. Das Nachsehen – vor allem in finanzieller Hinsicht – hätten die Briten.
Böse Zungen behaupten, die Briten müssten sich dann hinten anstellen.
Schon als Warnung an andere Staaten, die ebenfalls Austrittsgelüste hegen könnten. An starken antieuropäischen Bewegungen ist kein Mangel – bis hin zur Kernmacht Frankreich. Brüssel fürchtet noch stärkere Fliehkräfte in der Gemeinschaft.
Noch ist die Entscheidung, die sicher sehr knapp werden dürfte, nicht gefallen. Je näher sie rückt, umso schärfer wird der Ton zwischen EU-Befürwortern und -gegnern. Londons Ex-Bürgermeister Boris Johnson, ein Konservativer, hat sich dabei zu einem der härtesten Brexit-Verfechter aufgeschwungen. Kürzlich verglich er die EU mit dem Dritten Reich und zog sich damit heftige Kritik zu. Es sei immer wieder versucht worden, den Kontinent nach dem Vorbild des Römischen Reichs unter einer einzigen Regierung zu einen, sagte Johnson: „Napoleon, Hitler, verschiedene Leute haben das versucht, und es endete tragisch.“ Sein Parteikollege und Premierminister, David Cameron, der der EU im Februar Zugeständnisse bei den Sozialleistungen abgetrotzt hatte, hat mit aller Entschlossenheit für ein „Ja“ der Briten zur EU gekämpft. Einen Monat vor der Abstimmung darf die Regierung laut Gesetz aber nicht mehr öffentlich für ihre Position werben.
Es gibt gewichtige Gründe für einen Verbleib Großbritanniens im Kreis der EU-Länder, primär ökonomische. Der Abschluss neuer Freihandelsabkommen wäre nötig, Investoren könnten einen Bogen um die Insel machen und der Bankenplatz London, eines der wichtigsten Finanzzentren der Welt, könnte in Gefahr geraten.
Eine starke Unterstützung genießt die EU bei den Schotten. Die denken bereits über ein neues Unabhängigkeitsreferendum nach, sollte der Brexit kommen. Würde Schottland dann vom Rest des Königreiches loskommen, wäre der Weg frei für eine eigene EU-Mitgliedschaft.
Selbst wenn die Briten im Brüsseler Club blieben – einfachere Partner würden sie nicht. London lehnt die weitere Integration (ever closer union) konsequent ab, will aber bei Währungsangelegenheiten mitreden, ohne den Euro je einführen zu wollen. Beim Freihandel sind die Briten freilich vorn dabei und unterstützen die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Aber in Grenzen: Europäische Einheiten dürfen aus britischer Sicht niemals ein Ersatz für die eigenen nationalen Streitkräfte sein.
Dennoch warnt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker vor einem Austritt und umgarnt die Briten: „Ich bin der Meinung, dass wir den britischen Pragmatismus in Europa brauchen.“