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Rückblick Das Ende einer Schieberbande

Was bewegte vor 100 Jahren die Menschen in Anhalt und Sachsen, aus denen Sachsen-Anhalt hervorging? Heute: Januar 1920.

Von Manfred Zander 05.01.2020, 00:01

Magdeburg l „Das Jahr fängt ja gut an“, dürfte am Neujahrstag einer der meistgehörten Seufzer hierzulande gewesen sein. An diesem Tag traten erhebliche Preiserhöhungen in Kraft. Für Kohle, für elektrischen Strom, für Stadtgas. Auch für Wasser, Bier und viele Lebensmittel musste nun noch tiefer in die Tasche gegriffen werden. Wer es noch nicht wusste, erfuhr es beim Lesen der Zeitung am Neujahrsmorgen.

Und der Überbringer der schlechten Kunde war mitschuldig. Zum 1. Januar hatten auch die Zeitungen ihre Preise für Einzelverkauf, Abonnement und Inserate erhöht. Die Volksstimme kostete nun 20 Pfenning im Einzelverkauf, fünf Pfennig mehr als am Silvestertag. Die Herstellungskosten seien in den letzten Monaten nach oben gegangen, hieß es seitens der Verlage. Zum Beispiel seien 100 Kilogramm Druckpapier von 21 Mark im Jahr 1914 auf nun 120 Mark gestiegen. Die Magdeburger Presse zitierte den Verein deutscher Zeitungsverleger und die Vereinigung großstädtischer Zeitungsverleger, die erklärt hatten, „daß eine durchgreifende und allgemeine Erhöhung der Bezugs- und Anzeigenpreise nicht zu umgehen ist, wenn die verteuerten Herstellungskosten nicht wenigstens teilweise ausgeglichen werden sollen“.

Die Verleger verglichen die Preisentwicklung der Zeitungen mit der anderer lebenswichtiger Güter: „Vor dem Kriege kostete ein Pfund Butter oder 2 Zentner Brikett etwa 1,50 Mark ... Das Pfund ... Butter auf Lebensmittelkarten stellt sich heute auf 10,50 bis 11 Mk. dar, 2 Zentner Brikett sind unter 11 Mark nicht zu haben.“

Für ein Stück Butter mussten Menschen oft fast zwei Tage arbeiten. Die Tageslöhne lagen damals je nach Alter und Geschlecht in Magdeburg zwischen 3,00 und 7,00 Mark pro Arbeitstag, in Halberstadt, Stendal und im Kreis Wolmirstedt zwischen 2,00 und 5,00 Mark, in Burg und Schönebeck zwischen 2,00 und 6,00 Mark.

Rationierung und Teuerung besserten das Angebot nicht. Nicht alle Haushalte waren davon gleichermaßen betroffen. Wer Geld hatte, konnte sich dank undurchsichtiger Geschäfte seinen Vorratsschrank füllen. Der bekannte Hellseher Erik Hanussen nutzte das, um für seine Gastspiele im Prunksaal des Magdeburger Fürstenhofs zu werben. Hanussen habe gewettet, hieß es am 10. Januar in der Volksstimme, dass er versteckte Lebensmittel auffinden könne. Mit Sehergabe lenkte er den Fahrer eines Autos durch die Stadt. Im Gebäude des General-Anzeigers, im Luisenpark und im Café Fürstenau fand er Lebensmittelverstecke. Damit sei Hanussen „ein gefährlicher Mensch für alle Spitzbuben“ kommentierte die Volksstimme.

Da war es eigentlich schade, dass Hanussens Gastspiel schon beendet war, als in der Nacht zum 24. Januar in das Bismarck-Museum eingebrochen wurde. Das befand sich in einem Wirtschaftsgebäude des Schönhausener Schlosses, der Geburtsstätte Otto von Bismarcks. Der oder die Einbrecher hatten die Fenster aufgehebelt und zahlreiche Erinnerungsstücke an den Eiseren Kanzler geraubt. Zu den Beutestücken gehörten ein Relief mit dem Kopf Kaiser Wilhelm I., ein malaiischer Kris, den Bismarck vom Sultan von Sansibar erhalten hatte, ein goldener Adler, ein Geschenk der Kaiserin Augusta, eine Meerschaumpfeife, mehrere Medaillen und ein Ehrenbürgerbrief der Stadthalle.

Auch bei der Suche nach einer Schieberbande musste die Magdeburger Polizei ohne Hanussen auskommen. Am 27. Januar griff sie zu und nahm fünf Bandenmitglieder fest: zwei Schmiede, einen Former, einen Fräser und einen Kaufmann. Sie hatten über längere Zeit wöchentlich 20 bis 40 Kilogramm Sacharin aus dem Magdeburger Unternehmen Fahlberg-List gestohlen und über ein weit verzweigtes Händlernetz vertrieben. Die 1886 gegründete Firma galt als erster Sacharin-Hersteller der Welt.

Wie die Volksstimme dazu erfahren haben wollte, „steht es fest, daß in Magdeburg und in den Vorstädten eine wohlorganisierte Gesellschaft bestand, deren Mitglieder den Süßstoff unverpackt durch Diebstahl in der Fabrik sich verschafft haben und dann den Vertrieb des gestohlenen Produktes bewerkstelligten“. Die Zeitung hatte errechnet, dass die Täter an jeweils 10 Kilogramm Sacharin 2000 Mark verdienten.

Den im Artikel erhobenen Vorwurf mangelhafter Kontrollen wies die Firmenleitung zurück: „Wie sehr wir uns die Ausgestaltung des Kontrolldienstes angelegen sein lassen, erhellt die Tatsache, daß bei einer Belegschaft von 1450 Personen etwa 150 mit der Ausübung des Kontrolldienstes, der sich sogar auf Leibesvisitationen jedes einzelnen erstreckt, beschäftigt sind.“

So, als wäre es mit menschengemachter Not nicht genug, trug am 20. Januar die Natur ihr Scherflein bei. An dem Tag stieg das Elbe-Hochwasser in Magdeburg auf 5,03 Meter an. Die Stadt selbst kam bis auf den überfluteten Rotehorn-Park glimpflich davon. Anders in der Umgebung. Bei Lostau wurde der Elbdamm überschwemmt. Der Umflutkanal war ein reißender Strom. Durch den Bruch des alten Elbdeichs bei Niegripp musste das Dorf Niegripp geräumt werden. Das Pionierbataillon 4 aus Magdeburg kam den bedrohten Ortschaften zu Hilfe. „Die Lage ist sehr kritisch“, warnte die Volksstimme am 21. Januar. Am Tag darauf folgte Entwarnung. „Die Hochwasserwelle hat ihren Höchststand erreicht und fällt langsam.“

Auch Erfreuliches hielt der Jahresbeginn bereit. „Friedensanfang!“, titelte die Volksstimme am 11. Januar. Am Tag zuvor, um 4.15 Uhr, war der Friedensvertrag von Versailles in Kraft getreten. Das Blatt zog eine Bilanz: „Nach vierzehnmonatigem Hangen und Bangen, voll von Drohungen, Noten, Protesten, Verschärfungen und Verschleppungen, tritt endlich der Friede in Kraft. 51 Monate mörderischen Ringens, 14 Monate diplomatischer Hinterhältigkeiten, 5 ½ Jahre Krieg und Waffenstillstand trennen uns von dem Zustande, dem wir jetzt wieder entgegengehen: dem Frieden.“

Vierzehn Tage später war in Magdeburg noch einmal vom Versailler Vertrag die Rede. Im „Hofjäger“ sprach Otto Landsberg, Magdeburger Anwalt, freiwillig zurückgetretener Reichsminister und aus Frankreich unter Protest abgereister Mitverhandler des künftigen Friedensvertrages. Er sagte: „Der Friedensvertrag ist das furchtbarstes Buch, das jemals geschrieben ist, es ist das Schicksbuch des deutschen Volkes.“

Landsberg erwähnte auch etwas, das weit über Magdeburg hinaus als Enthüllung wahrgenommen wurde. „Eine aufsehenerregende Mitteilung aus der Vorgeschichte des Waffenstillstands“, nannte es die Kölnische Volkszeitung drei Tage nach der Rede im „Hofjäger“. „Er sagte, daß von der damaligen (kaiserlichen, d. Verf.) Regierung am 5. November, als die Antwort ... auf das deutsche Ersuchen um den Waffenstillstand ausblieb, ein Delegierter zu den Gegnern entsandt worden sei, der im Einverständnis mit der Obersten Heeresleitung die Ergebung des ganzen Heeres und des ganzen Volkes anbieten sollte.“

Trotz dieser Feststellung, vermutete die Kölnische Volkszeitung, „werde man auch in Zukunft ... davon schwätzen, daß die Revolution den Zusammenbruch Deutschlands verursacht habe“.