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Schwimmbad-Unfälle Trauer nach Tragödie im Hotel-Pool

Vor sieben Jahren starb die 13 Jahre alte Sarah Ernst aus Rietzel im Hotel-Pool in Bulgarien. Ihre Familie kämpft mit dem Schmerz.

Von Bernd Kaufholz 13.07.2018, 01:01

Rietzel l Günther Ernst sitzt auf der Terrasse seines Hauses in Rietzel, einem Ortsteil von Möckern. Auf das Vordach prasselt der Regen. Der erste seit vielen Wochen. Und irgendwie bezeichnend für die Stimmung. Jener wolkenverhangene Mittwoch ist der siebte Todestag seiner Tochter Sarah.

Der 59-Jährige hat einen Stapel Papiere vor sich liegen. Briefe aus Varna von der Staatsanwaltschaft und vom Bezirksgericht. Darin wird ihm mitgeteilt, dass gegen drei Männer, die für den Bau der Schwimmhalle beziehungsweise des Pools zuständig waren, und gegen den Bademeister, der am 11. Juli 2011 Dienst hatte, der Prozess eröffnet wird. Die Anwesenheit von Ernst sei nötig.

Doch er schüttelt nur den Kopf: „Nein, auf keinen Fall! Ich habe mir damals geschworen: Nie wieder nach Bulgarien. Ich will nicht mehr!“

„Dabei sollte doch alles so schön werden. Und es fing auch so an ...“, erinnert sich der 59-Jährige.

Sarah und ihr seit acht Jahren alleinerziehender Vater waren von Tegel nach Bulgarien geflogen. „Seitdem wir allein sind, haben wir immer einen gemeinsamen Sommerurlaub gemacht“, erzählt der 59-Jährige weiter. „Frühbucher. Immer ins Warme. Tunesien, Griechenland, Spanien.“

Der erste Eindruck vom All-inclusive-Hotel „Berlin Golden Beach“ sei prima gewesen. „Sarah hat gesagt: Oh, Papa, ein Superhotel.“

Am Sonntag sei der erste Urlaubstag gewesen: „Wir haben im Pool und im Meer gebadet, haben gelesen und es uns gut gehen lassen.“ Morgen finde ich hier bestimmt Freunde, habe die kontaktfreudige Sarah gesagt.

Später waren Vater und Tochter zwei Stunden am Strand spazieren gegangen. „Sarah war an diesem Abend nicht wie sonst – irgendwie erwachsener. Sie wollte nicht gleich shoppen gehen. Sie wollte sich nur unbedingt von dem Mann porträtieren lassen, der vor unserem Hotel malte.“

Am nächsten Tag lagen beide auf ihren Liegen am Strand. Bis Sarah gegen 10.30 Uhr sagte: Ich gehe rüber zum Pool.

„Ich habe gelesen, aber ich konnte mich nicht richtig konzentrieren“, so der 59-Jährige. „Ich habe gedacht, es liegt an der Sonne. Aber es war wohl eine Art Ahnung. Ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt.“

Günther Ernst hörte wenig später ein Martinshorn und sah einen Rettungswagen mit Blaulicht vor das Hotel fahren. „Ich bin hingegangen und habe einen Animateur gefragt, was passiert ist. Dieser sprach deutsch: Einem kleinen Mädchen ist im Pool etwas passiert. ,Wie alt’, habe ich gefragt. Das wusste er nicht. Aber als er gesagt hat: Mit einer blauen Bikinihose, habe ich gewusst: Das ist Sarah.“

Was Günther Ernst zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, war, wie das Unglück im Hotelpool geschehen konnte: Am Ende eines im Durchmesser etwa 20 Zentimeter großen Ansaugrohrs der Umwälzpumpe auf dem Beckengrund fehlte die Abdeckung. So entstand über dem offenen Teil ein starker Sog. Dieser hatte das Mädchen wie ein Magnet unter Wasser festgehalten. Mehrere Hotelmitarbeiter hatten minutenlang versucht, den Körper von der Öffnung wegzuziehen, aber die Saugkraft im 1,40 Meter tiefen Wasser sei kaum zu überwinden gewesen.

Die folgenden Stunden nach dem Unfall kann der tief in die Seele getroffene Vater nur schwer wiedergeben. Die Erinnerung blitzt nur bruchstückhaft auf. Er sei in die Klinik gebracht worden. Der Arzt habe den Kopf geschüttelt. „Da habe ich gewusst, es sieht schlecht aus.“ Seine Tochter sei reanimiert worden, könne aber nicht selbst atmen. Es gebe keine Gehirnströme mehr.

Günther Ernst muss innehalten. Die Erinnerungen übermannen ihn. Er schlägt die Hände vors Gesicht. Die Augen sind feucht. „Seit damals ist kein Tag vergangen, an dem ich nicht an Sarah gedacht habe“, flüstert er. Und noch leiser fügt er an: „Manchmal habe ich an Selbstmord gedacht. Wenn die Chance auch nur eins zu einer Million gestanden hätte, dass sie dadurch wieder lebt, hätte ich es getan.“

Freunde aus dem Dorf haben ihn „aufgefangen“. Jeden Tag habe sich jemand um ihn gekümmert, ihn besucht, eingeladen. „Das hat ein wenig getröstet und die schwarzen Gedanken verscheucht.“

Dann denkt er wieder zurück: „Die bulgarische Polizei hat unmittelbar nach Sarahs Tod ein Verfahren eröffnet, um die genaue Todesursache zu ermitteln.“

Der Mann aus Rietzel wurde erst zur Polizei, dann zum Amtsgericht gebracht und befragt. „Die Aufregung und die Verständigungsschwierigkeiten ...“ Er habe etwas unterschreiben müssen. Was? „Ich weiß es nicht mehr.“

Die Nacht zum Dienstag. „Ich habe innerlich gewusst, dass Sarah gestorben ist. Und ich habe immer daran gedacht, was sie wenige Tage zuvor gesagt hatte. Wir hatten einen Film über Organspende gesehen und Sarah meinte: Wenn ich mal tot bin, sollen meine Organe Kranke haben, damit sie weiterleben können.“ Und wenn ihn in Bulgarien jemand gefragt hätte, hätte er diesen Willen der Tochter respektiert.

Am nächsten Morgen wurde die Ahnung zur traurigen Gewissheit. „Ich musste mein Kind sehen und anfassen. Ich wollte wissen, ob es kalt ist. Denn Sarah hat ausgesehen, als ob sie schlafen würde.“

Das Mädchen sei zu lange unter Wasser gewesen, habe der Arzt gesagt und den Untröstlichen zu trösten versucht: Selbst wenn sie überlebt hätte, wäre sie nie wieder der Mensch geworden, den Sie gekannt haben.

Günther Ernst verschaffte sich fast gewaltsam Zutritt zum inzwischen gesperrten Innenpool. Das Wasser war abgelassen worden. Dort erfuhr er die Tragödie mit dem Saugrohr. Eine Stunde saß er am leeren Becken. Allein mit sich und seinem Seelenschmerz.

„In den letzten zehn Jahren sind mehr als 100 Kinder – die meisten zwischen sieben und 12 Jahre alt – durch Ansaugungen in Schwimmanlagen ums Leben gekommen. Knapp 400 wurden zum Teil schwer verletzt“, weiß Evelyn Wagner aus Schmalkalden in Thüringen. Die 2. Vorsitzende des Vereins „Sicherheit im Hotelpool“ hat 2001 selbst ihren elf Jahre alten Sohn in Griechenland verloren, der im Auslauf einer Wasserrutsche angesaugt wurde und ertrank.

Sie klagte bis zum Bundesgerichtshof gegen das Reiseunternehmen und bekam 2006 Recht. Das oberste Gericht entschied in einem Grundsatzurteil, dass alle Einrichtungen, auch wenn sie nicht ausdrücklich im Katalog beworben werden, für Unfälle haften. Seitdem unterstützt der Verein Eltern mit ähnlichen Schicksalen.

Sarahs Zimmer sieht noch genauso aus, wie sie es vor dem Abflug ans Schwarze Meer verlassen hat. Oma Olga, die mit im Haus des Sohnes lebt, sagt: „Ich habe schon meinen Mann und zwei Söhne verloren, aber der Schicksalsschlag mit Sarah war der Schlimmste.“ Die 90-Jährige öffnet den Kleiderschrank. Darin hängen die Sachen der Enkelin säuberlich aufgereiht. Dann muss sie sich aufs Bett setzen: „Die Erinnerungen ...“, sagt sie kaum vernehmbar.

Günter Ernst stellt sich immer wieder dieselben Fragen: „Sarah wäre jetzt 20 Jahre alt. Wie sähe sie heute aus? Sie wollte immer etwas mit Menschen machen – vielleicht im Krankenhaus. Was würde sie heute machen? Wäre sie verheiratet? Hätte sie schon ein Kind?“

Liste der Unfälle von Kindern mit Ansaugrohren im Pool (Quelle: parents4safety.de)