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Dramatische Aktion an der Saale in Gottesgnaden / Fluss steigt auf Rekordhoch von 9,63 Metern Soldaten retten 130 Einwohner in Calbe

Von Olaf Koch und Tilman Treue 07.06.2013, 01:21

Aufregende Stunden gestern in Calbe: Mit einem Rekordpegel von 9,63 Metern stieg gestern die Saale und überflutete Teile der Innenstadt. Unterdessen retteten Soldaten der Bundeswehr den Ortsteil Gottesgnaden.

Calbe l Afghanistan und Calbe sind zwar 5000 Kilometer voneinander entfernt, doch in den Augen der Soldaten der Bundeswehr sehr nah beieinander. Zumindest in diesen Tagen wird nicht am Hindukusch gekämpft, sondern an der Saale. 100 Soldaten vom Standort Havelberg, Einsatzkräfte der Feuerwehren und des THW sind die Helden von gestern. Sie retten ein ganzes Dorf: Gottesgnaden. Der Ortsteil mit insgesamt 130 Einwohnern, der wie eine Insel in der Saale liegt, droht am Morgen ein Opfer der Wassermassen der Saale zu werden. "Das ist wirklich unfassbar. So etwas habe ich hier noch nie gesehen", resümiert Dieter Tischmeyer, Bürgermeister der Stadt Calbe.

Auch alle Anwohner von Gottesgnaden stehen am Morgen der Flut hilflos gegenüber. Dass der Fluss an dieser Stelle hin und wieder an die 9-Meter-Marke kommt, daran haben sich die Anwohner gewöhnt. Höchster jemals gemessener Pegel ist aus dem Jahr 1947 mit 9,14 Meter dokumentiert. Was die Einsatzkräfte aber gestern sehen, lässt auch sie schier verzweifeln: Der Pegel Calbe zeigt am Morgen 9,56 Meter an. "Das ist wirklich besorgniserregend. Wir müssen das Schlimmste befürchten", sagt Einsatzleiter Christoph Jäger vor Ort.

Der Deich, der seit vielen Jahren wie ein unverrückbarer Wall eine Art Versicherung für die Gottesgnadener ist, muss verstärkt werden. Auf mehreren hundert Metern Länge wird die Deichkrone mit tausenden Sandsäcken um 30 Zentimeter erhöht. Außerdem werden alle 20 Meter von der Deichkrone bis zum Fuß des Deiches Sandsäcke gestapelt, um die Stabilität sicherzustellen. "Da hilft nur Menschenkraft", beschreibt Axel Meier vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW).

Immer wieder rollen die Laster der Bundeswehr rückwärts den engen Deichweg entlang. Schnell haben die Soldaten eine Menschenkette gebildet, entladen den Lkw und stapeln die Sandsäcke. "Ich habe dem Verantwortlichen der Bundeswehr eine Schnelleinweisung gegeben, wie fachgerecht zu stapeln ist. Das muss jetzt klappen", so LHW-Mann Meier. Am Ende ist er mit der Arbeit der Soldaten zufrieden. Doch die Saale steigt immer höher: 9,53 Meter. 9,59 Meter. 9,63 Meter. Unter den Beteiligten ist immer wieder die bange Frage zu hören: Reicht die Höhe des Deiches aus?

Der Deich steht, ist aber mit Wasser vollgesogen wie ein nasser Schwamm. Am Deichfuß tritt erstes Drängwasser hervor. Um ein Wegrutschen des Deiches zu verhindern, muss weiter unten ebenfalls eine Sandsack-Barriere errichtet werden. Die Soldaten schwitzen in der Juni-Sonne, zudem Feuerwehrmänner aus Rathmannsdorf, Hohenerxleben und aus dem Harz. Doch am Ende gelingt, was viele am Morgen nicht zu hoffen wagen: Der Deich hält.Doch Sicherheit geht vor. Deshalb entscheidet Einsatzleiter Christoph Jäger, dass erst zwei und später nochmals eine Familie evakuiert werden muss - vom Wasser aus, weil ein Zugang über die Straße nicht mehr möglich ist.

Damit ist dann der Einsatz der 100 Soldaten aus Havelberg in Calbe-Gottesgnaden beendet. Der Offizier gibt den Abmarschbefehl. In einem Bus der Bundeswehr werden die entkräfteten Männer zum nächsten Einsatz gefahren.

"Danke, tausendmal Danke", so ein überwältigter Bürgermeister. Denn nicht nur im Süden hat Dieter Tischmeyer eine "Front", sondern auch im Norden zur Innenstadt. Über Nacht steigt der Mühlgraben immer weiter an. Am Wassertor lösen sich schließlich einzelne Sandsäcke aus der obersten Lage des Walls. Das Wasser fließt ungehindert auf die Straße, dehnt sich immer weiter aus und steht schließlich fast knietief auf der Schloßstraße. In den Morgenstunden wird die Feuerwehr gerufen, sperrt den Bereich und erkundet die Situation schließlich mit einem Schlauchboot. Die Anwohner schauen schockiert aus ihren Fenstern, erste Neugierige bestaunen den Einsatz. "So hoch stand das Wasser hier noch nie", wundert sich ein älterer Anwohner, "bis zur Straße ja, aber bis zum Kino nicht."

Wasser bis ins Rathaus: Krisenstab zieht um

Das Kino ist längst geschlossen, doch die Calbenser erleben ihren Film derzeit ohnehin an den Ufern der Saale, beziehungsweise dem, was davon noch erahnbar ist. Selbst am Rathaus hat der Fluss jegliche Barrieren überwunden, steht im Keller und einigen tiefer gelegenen Räumen. Nur noch wenige Zentimeter fehlen bis zu einem wichtigen Stromverteiler. Ist der erreicht, muss abgeschaltet werden. Vorsorglich zieht der Stab für außergewöhnliche Ereignisse am Morgen ins Feuerwehrdepot um. Im Rathaus verbleibt nur eine Notbesetzung, der Großteil der Stadtangestellten ist ohnehin anderweitig zur Gefahrenabwehr im Einsatz.

In der Zwischenzeit plätschert das Saalewasser auch in den Bereich der Fußgängerzone. Langsam zunächst und zum Glück funktioniert die Kanalisation noch. Auch hier verstärkt die Feuerwehr die Sandsackbarriere, aber die Flut dahinter steigt unaufhörlich weiter.

Gestern Abend bis auf 9,63 Meter.