Vereinsleben Sportschützen in Sachsen-Anhalt gewinnen an Mitgliedern - Neulinge erzählen, was sie begeistert
Der Corona-Pandemie zum Trotz: Die Sportschützen in Sachsen-Anhalt wollen weg vom angestaubten Ruf, hin zum Treffpunkt für die Jugend.

Wittenberg/MZ - Celina Schreiber seht still wie eine Statue. Bewegungslos fixiert die 15-Jährige die Zielscheibe, den Kolben ihres Luftgewehrs fest gegen die Schulter gepresst. Dann, ganz langsam, legt sie den Zeigefinger auf den Abzug. Peng! Mit einem Krachen löst das Gewehr aus. Nur um Haaresbreite verfehlt das Metallgeschoss das Zentrum der wenige Zentimeter breiten Papierscheibe. „Sie steht so stabil. Ich bin begeistert“, sagt Jugendtrainerin Katrin Pareigis.
Es ist ein später Nachmittag im Schützenhaus von Astoria Wittenberg. Immer wieder zerschneidet das scharfe Knallen der Druckluftgewehre die Stille. Am Schießstand lässt ein knappes Dutzend Schützen Diabolos - so nennen sich die Geschosse - auf die zehn Meter entfernten Zielscheiben sausen. Vereinsvorsitzender René Dotschko beobachtet seine Truppe vom Rand aus. In seiner Miene spiegelt sich Zufriedenheit. „Heute sind alle da“, sagt er. Jung und alt, Frauen und Männer.
Neben Senioren üben sich hier auch Teenager im Schießsport. Während viele andere Vereine über Mitgliederschwund in der Corona-Pandemie klagen, ist die Mitgliederzahl im Schützenverein Astoria stabil. Mehr noch: Der Verein hat im vergangenen Jahr sogar einige neue, junge Schützen hinzugewinnen können. Damit ist er nicht allein in Sachsen-Anhalt.
Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Schützen in Sachsen-Anhalt gestiegen
Corona zum Trotz: Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Schützen in Sachsen-Anhalt gestiegen. Nach Angaben des Landesschützenverbands kletterte sie um rund 200 auf 19.761 Mitglieder. Damit ist der Verband mit seinen 458 Vereinen nach eigenen Angaben der mitgliederstärkste in Ostdeutschland. „Die Entwicklung zeigt, dass die Mitgliedergewinnung kontinuierlich betrieben wird“, sagt Verbandssprecher Michael Eisert. Seit sechs Jahren hält der Aufwärtstrend nun schon an. Um das zu erreichen, mussten sich viele Vereine neu orientieren.
Zurück im Schützenhaus in Wittenberg. Noch etwas unsicher richtet Vivien Hintze ein Luftgewehr auf die Zielscheibe. „Ich bin heute zum ersten Mal hier“, erzählt die 18-Jährige - lila Haarsträhne, silbernes Nasenpiercing, schwarzer Kapuzenpulli. Dann legt sie an - und drückt ab. Per Knopfdruck und unter lautem Surren fahren die Zielscheiben anschließend vom anderen Ende des Standes an Drahtseilen zur Schützin zurück. Vivien blickt auf das Papier: Voll ins Schwarze. Alle Diabolos sind im dunklen Bereich nahe der Mitte eingeschlagen. Vivien grinst vor Stolz.
Sie habe viele Hobbys ausprobiert, erzählt die Kfz-Mechatronikerin. Reiten, Tanzen, Feuerwehr. Einiges brach wegen Corona weg. Anderes habe sie schlicht nicht begeistert. „Ich muss ausgelastet sein.“ Dann besuchte sie ein Schützenfest in Wittenberg. Und entschied sich schließlich, dem Schützenverein eine Chance zu geben, will nun Mitglied werden. „Die Leute hier waren echt nett.“
Nach der Wende hat es einen massiven Mitgliederschwund gegeben
Junge Menschen im Schützenverein - das war in Sachsen-Anhalt lange eine Seltenheit, erzählt Dieter Lübbers, Präsident des Kreisschützenverbands Wittenberg. Nach der Wende habe es einen massiven Mitgliederschwund gegeben, erinnert sich der 63-Jährige. Weil der Ruf angestaubt und die Beiträge für neue Mitglieder hoch waren, liefen viele Jugendliche etwa zum Fußball über. „Man hat gemerkt: Um die Vereine am Leben zu halten, müssen wir was für die Jugend tun.“
Inzwischen hat sich laut Lübbers die Einstellung bei den Schützen verändert: Jugendtrainer wurden ausgebildet, der Fokus mehr auf den Sport und weniger auf festliche Trinkgelage gelegt. Und welche Rolle spielt bei den Neulingen der Wille, einfach nur eine Schusswaffe im Schrank zu haben? „Das war früher mal so“, sagt Lübbers. Einige „schwarze Schafe“ gebe es zwar noch, doch die Regeln seien heute schärfer. „Das ist nicht die Hauptmotivation.“ Denn: Wer als Vereinsmitglied eine scharfe Waffe besitzen will, muss regelmäßiges Training nachweisen.
Eine Tradition hat die Jahrzehnte indes überdauert: Die Gemeinschaft sei immer noch ein wichtiger Pluspunkt für potenzielle Mitglieder, betont Lübbers. „Sport und Tradition - man muss beides vereinen.“
In Wittenberg gönnen sich die Schützen eine Pause im Gemeinschaftsraum. An einer langen Tafel klirren die ersten Bierflaschen aneinander. Die Rückwand des Saals schmücken schwere Pokale, silberne Zierteller und mit goldenen Nähten geschmückte Wimpel. Der Raum versprüht Schützenfestatmosphäre. „Ich hätte vorher nie gedacht, dass das etwas für mich sein könnte“, sagt Vivien. Eine Waffennärrin sei sie aber nicht. Bundeswehr? Jagdschein? Kein Interesse. „Ich könnte nie auf ein Tier schießen.“
Wir wollen die Jugend unbedingt behalten.
Jugendtrainerin Katrin Pareigis
Auf dem Stuhl gegenüber hat Jugendtrainerin Katrin Pareigis Platz genommen. Die Corona-Pandemie sei auch für die Jugendarbeit im Schützenverein eine schwierige Zeit gewesen, berichtet die 57-Jährige. Viele Feste mussten ausfallen, gemeinsame Ausflüge ebenso. „Wir wollen die Jugend unbedingt behalten.“ Ihr Vorteil: Einzeltraining mit Maske sei möglich gewesen. Also hat sie regelmäßig mit den Nachwuchsschützen telefoniert, Übungsstunden organisiert. Sogar Fernwettkämpfe, bei denen die Anwärter unter Wettkampfbedingungen allein schießen, finden statt.
Doch es sei auch das Schießen selbst, das die Jugend fasziniert, glaubt die Trainerin. Die richtige Atmung, Konzentration, die Verbindung von Köper und Geist. „Das Schießen ist wie ein Ausschalter im Kopf.“
Noch ist der Altersdurchschnitt in Sachsen-Anhalts Schützenvereinen indes hoch. Laut Landesverband ist die Hälfte aller Mitglieder 56 Jahre alt oder älter, nur jedes fünfte Mitglied ist weiblich. Allerdings: Der Anteil an Nachwuchsschützen unter 21 liegt laut Verband derzeit bei knapp sieben Prozent - Tendenz steigend.
Celina legt ihr Gewehr ab. Nach anderthalb Stunden ist das Schießen beendet. Anspannung fällt von ihr ab. Ihre Ergebnisse von heute zählen für einen Fernwettbewerb. Die durchlöcherten Scheiben werden später eingeschickt. Als sie sich vom Schießstand wegdreht, hält ihr Katrin Pareigis einen silber-blauen Pokal entgegen. Die Wandertrophäe der Kreisliga. „Den darf ich dir übergeben“, sagt die Trainerin. Celina stutzt, dann lächelt sie. Seit einem Jahr ist die 15-Jährige im Verein, ist mitten in der Pandemie eingestiegen. Nun erntet sie die Früchte des Trainings. „Es ist wie ein zweites Zuhause geworden“, sagt die Schülerin. Ihr Ziel: Im kommenden Jahr will sie bei den Deutschen Meisterschaften an den Start gehen. Ob sie das Potenzial hat? Trainerin Pareigis nickt. „Auf alle Fälle.“