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Die Jablonskis überleben Folter / Doktorarbeit von Alexander Bastian über Haftanstalt Moritzplatz vorgestellt. Von Wolfgang Schulz Stasi-Knast: Vernehmer zieht plötzlich die Pistole

01.11.2012, 01:13

Mehr als 30 Jahre lang hat die Stasi in ihrem Magdeburger Untersuchungsgefängnis unschuldige Menschen gefangen gehalten und gequält. Über 5500 politische Häftlinge gab es in dieser Zeit. Der Magdeburger Wissenschaftler Alexander Bastian hat über den Stasi-Knast seine Doktorarbeit geschrieben und diese am Montag in der Gedenkstätte am Moritzplatz vorgestellt.

Magdeburg l Die 66-jährige Marietta Jablonski und ihr sieben Jahre älterer Ehemann Siegfried sind für die Buchpräsentation am Montag in der Gedenkstätte am Magdeburger Moritzplatz extra aus Hannover angereist, wo die einstigen Magdeburger seit 1974 leben.

In der Doktorarbeit von Alexander Bastian über die Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit Magdeburg-Neustadt, die der 31-Jährige an diesem Abend im ehemaligen Stasi-Knast vorstellt, ist ihr unglaubliches Schicksal festgehalten. Bastian zitiert als Beispiel für viele andere Zeitzeugenberichte aus dem 1996 von Marietta Jablonski geschriebenen Erfahrungsbericht "Verhören bis zum Geständnis", in dem diese Methoden zur Geständniserpressung und Todesdrohungen schildert. Der Magdeburger Alexander Bastian, geboren 1981, studierte Geschichte und Soziologie an der Otto-von-Guericke-Universität und ist dort seit 2010 als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Seine Doktorarbeit über den Stasi-Knast am Moritzplatz wurde als beste Dissertation an der Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften des Jahres 2010 ausgezeichnet.

Die Jablonskis, sie Studentin, er Maschinenbauingenieur, lebten seit den 60er Jahren ruhig und zufrieden am Magdeburger Faßlochsberg, bis zum 13. April 1971. An diesem Tag wurden sie von der DDR-Geheimpolizei abgeholt und für mehrere Monate in die U-Haft am Moritzplatz gesteckt. Der Vorwurf: staatsfeindliche Hetze. Die Stasi suchte zu dieser Zeit ohne Erfolg, aber mit viel Druck aus Berlin die Verfasser von Flugblättern. Durch Schriftvergleiche waren die Stasi-Leute schließlich irgendwie auf die Jablonskis gestoßen und inhaftierten das Ehepaar ohne stichhaltige Beweise. In Einzelhaft und ohne jeden Kontakt zur Außenwelt (nur einmal sah sie ihren Mann innerhalb von sieben Monaten im Gefängnis) sollte es schon gelingen, so der unglaubliche Vorsatz der MfS-Schergen, die beiden zu einem Geständnis zu bringen.

"Ich habe mehrfach Todesdrohungen erlebt", erinnert sich Marietta Jablonski noch heute mit Schaudern an die Zeit vor mehr als 40 Jahren. Außerdem sei sie von dem überwiegend männlichen Personal sexistisch beschimpft und bei Intimverrichtungen beobachtet worden. "Mit mir wurde sogar eine Scheinhinrichtung veranstaltet", ergänzt Siegfried Jablonski. "Zwei Mann hielten mich fest, und der dritte Stasi-Offizier zog plötzlich eine Pistole, hielt sie mir an die Schläfe und schrie: ,Du Schwein wirst gleich hier erledigt.\'" Obwohl er nichts getan hatte, gestand Siegfried Jablonski schließlich die staatsfeindliche Hetze. "Sie hätten uns sonst unseren damals vierjährigen Sohn weggenommen", sagt seine Frau. Jablonski wurde im Februar 1972 zu sechs Jahren Haft verurteilt und 1974 freigekauft. Im Mai 1974 durfte die Familie in die Bundesrepublik ausreisen. Heute sind die Eheleute voll rehabilitiert.

"Politische Untersuchungshäftlinge wurden in speziellen geheimdienstlichen Untersuchungshaftanstalten inhaftiert und erfuhren während der Haftzeit sowohl psychische als auch physische Repressionen und Gewaltakte", schreibt Bastian in seiner Doktorarbeit.

Diese zielgerichteten Maßnahmen während der Untersuchungshaft umfassten mehrere Schweregrade wie körperliche Gewalt, andauernde Isolation sowie systematischen Schlafentzug in Verbindung mit Dauerverhören." Nach einem dreieinhalbjährigen Akten- und Literaturstudium hat er mit dieser Arbeit die erste geschlossene Analyse der Untersuchungshaftanstalt Magdeburg erstellt.

Besonders erfreut äußerte sich darüber der Leiter der Außenstelle Magdeburg der Stasi-Unterlagenbehörde, Jörg Stoye. Eine solche wissenschaftliche Arbeit mit dem tiefgreifenden regionalen Bezug gebe es kaum anderswo, sagte er. Völlig neue Eindrücke vermittle dabei die Geschlechterforschung.

"Durch die Untersuchung des männlichen und weiblichen Personals war es aber ebenso möglich", stellte Bastian klar, "wesentliche persönliche und dienstliche Merkmale auf der Täterseite herauszuarbeiten."

Das sei eine wichtige Ergänzung des bisherigen Forschungsbestandes. Die analysierte Situation von männlichen und weiblichen Häftlingen wiederum habe wichtige Ergebnisse etwa zur Anzahl, geschlechtlichen Verteilung, Dauer der Untersuchungshaft, aber auch zu sozialen Hintergründen wie Beruf und Arbeit erbracht.

Aus den umfangreichen Tabellen geht hervor, dass von 1958 bis 1989 rund 5500 Gefangene, darunter 962 Frauen, im Stasi-Knast am Moritzplatz inhaftiert waren. In manchen Fällen dauerte die Untersuchungshaft bis zu 24 Monaten. Die Vorwürfe lauteten u.a. auf staatsgefährdende Propaganda und Hetze, Militär- und Wirtschaftsspionage, illegaler Grenzübertritt, Sammlung von Nachrichten, Verleitung zum Verlassen der DDR. Solche "Vergehen" machten die Häftlinge zu "Staatsfeinden". Ihre Recht- und Hilflosigkeit werden in der Doktorarbeit eindrücklich dargestellt.