Wie ein Soldat aus Magdeburg nach einem Bomben-Attentat in Kabul vor zehn Jahren sein Schicksal gemeistert hat. Von Janette Beck Tony Ewert: "Es wird vielleicht nie vorbei sein"
Magdeburg l Fast auf den Tag vor zehn Jahren verließ Tony Ewert, schwerverwundet an Leib und Seele, das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm. Ein Selbstmordattentat hatte den Soldaten buchstäblich herausgerissen aus dem Leben. Heute spürt der Magdeburger wieder festen Boden unter den Füßen - auch wenn der eine aus Karbon ist.
So, wie Tony Ewert da in der Sonne sitzt, seine linke, wie er zu sagen pflegt "Schokoladen-Seite", den ankommenden Besuchern des Cafés zugewandt, unterscheidet sich der 33-Jährige kaum von anderen Männern in seinem Alter: Schlank, braungebrannt, bestens gelaunt und selbstbewusst mit unverhohlenem Blick fürs Schöne - sprich, die nette, blonde Bedienung. Die wundert sich lediglich über die außergewöhnliche Bestellung des Gastes: "Kaffee, kalt, ohne alles bitte ..."
Dass sich der Magdeburger in vielem von den meisten der Gäste unterscheidet, wird erst auf dem zweiten Blick deutlich. Zum Beispiel, wenn man ihm genau in die Augen schaut - was sich kaum vermeiden lässt bei dem faszinierenden Meeres-Blau. Trotzdem fällt es kaum auf, dass das rechte Auge kein natürliches ist. "Der Kunst der Glasaugenhersteller sei Dank. Die Augenfarbe naturgetreu nachzubilden, war ein echtes Problem. Aber da war ich eitel. Ich habe genervt, bis die Jungs das so hinbekommen haben, wie ich es wollte", erzählt Tony Ewert frei von der Leber weg, als ob er über einen maßgeschneiderten Anzug plaudert.
Episoden dieser Art, gewürzt mit einem ordentlichen Schuss Selbstironie, hat der ehemalige Stabsunteroffizier bei unserem Wiedersehen nach zehn Jahren etliche auf Lager.
So auch jene, dass das perfide Werk des Selbstmordattentäters Tony Ewerts Körper vor zehn Jahren in Kabul "quasi zweigeteilt" habe: In eine gute linke Hälfte, die er für "halbwegs telegen" hält. Und in eine arg ramponierte rechte, die er, nahezu automatisch, in den Schatten stellt.
Selbst, wenn Tony Ewert es wollte, das, was damals geschehen ist, kann er weder vergessen noch ignorieren. "Jeden Morgen, wenn ich in den Spiegel schaue und mein Glasauge reinige, oder, wenn ich nach dem Aufstehen die Prothese anschnalle, dann spüre ich, dass ich nicht mehr der bin, der ich einmal war. Aber die einzelnen Handgriffe sind inzwischen automatisiert. Sie gehören wie bei anderen das Aufsetzen der Brille einfach zu meinem Leben."
Das hing vor zehn Jahren bei der Einlieferung ins Bundeswehrkrankenhaus in Ulm am seidenen Faden. Der gebürtige Halberstädter hatte kurz nach der Bomben-Explosion, die den mit 33 Soldaten besetzten, ungepanzerten Bus in Kabul völlig zerstört hatte, aufgrund der unzähligen Verletzungen und der unstillbar blutenden Wunden am Kopf und am Bein das Bewusstsein verloren.
Noch vor dem Rückflug wurde der Soldat in ein künstliches Koma versetzt und das Bein, das nicht mehr zu retten war, amputiert. Wieder daheim in Deutschland, kämpften die Ärzte um das Leben des Schwerstverwundeten. Und sie gewannen den Kampf. Dennoch wagte niemand eine Prognose, wie es weitergehen sollte für den damals 23-Jährigen, der "Soldat mit Leib und Seele war", aber - so viel war sicher - es nie wieder sein wird.
Als er aus dem Koma erwachte, war tatsächlich alles anders. So anders, dass Tony Ewert sich selbst nicht mehr wiedererkannte. "Die wussten schon, warum sie mir ewig keinen Spiegel in die Hand gegeben hatten." Als es dann so weit war, tat der Blick darin "einfach nur sehr, sehr weh. Ich war wütend und traurig, dass mir dieser Selbstmörder mein Gesicht genommen hatte. Auf die blauen Augen, die mir meine Mama vererbt hatte, hatte ich mir immer etwas eingebildet."
Was er sich nicht nehmen lassen wollte, waren der Mut und die Lust am Leben. Sie waren stärker als jeder Zweifel und erstickten jeden Anflug von Selbstmitleid oder Depression im Keim. In all den Jahren ist der frühere Schönebecker und heutige Magdeburger nie von seiner Sicht der Dinge abgegangen: Dass er damals in Kabul einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Weder im Krankenhaus in Ulm noch später in den nicht enden wollenden Rehas - "ich habe nie auch nur den leisesten Wunsch gehabt, lieber tot als lebendig zu sein". Als Überlebender sah er es als seine Pflicht an, das Schicksal anzunehmen. "Das war ich den vier Kameraden, die bei dem Anschlag damals ihr Leben lassen mussten, einfach schuldig."
Etwas "schuldig" war dem damals am schwersten von allen 29 verwundeten deutschen Soldaten auch der damalige Verteidigungsminister Peter Struck. Der oberste Dienstherr der Bundeswehr hatte den Magdeburger im Krankenhaus in Ulm besucht und ihm dabei, "in die Hand versprochen, dass, ich weiter als Soldat oder ziviler Mitarbeiter in der Bundeswehr verbleiben könnte, wenn ich wollte." Und Tony Ewert wollte. Unbedingt. Und das lieber heute als morgen.
Allerdings stellte sich Struck damit vor ein großes Problem: "Zu diesem Zeitpunkt gab es überhaupt keine gesetzliche Grundlage für einen Verbleib in der Bundeswehr. Bis dahin galt: Wer infolge von Verwundungen nicht mehr den Dienst an der Waffe verrichten konnte, musste ausscheiden." Dennoch, der Bundesminister hielt Wort und setzte sich persönlich für den jungen Mann ein. Und so wurde Tony Ewert zum "Präzedenzfall". Ihm und dem persönlichen Einsatz von Struck ist es zu verdanken, dass die Ansprüche der Soldaten, die bei Auslandseinsätzen verletzt oder verwundet wurden, inzwischen eine rechtliche Grundlage haben. "Heute kann ich mir", so Ewert trocken, "auf die Schulter klopfen, dass es solche juristischen Wortungetüme gibt wie ,Einsatzversorgungsgesetz\' (in Kraft getreten im Dezember 2004/d. Red.) oder, noch schöner, ¿Einsatz-Weiterverwendungsgesetz\' (2007)."
So lang und beschwerlich der Weg für die Gesetze durch die verschiedenen Instanzen war, so lang und beschwerlich gestaltete sich auch für Tony Ewert der Weg zurück ins Leben. "Als ich die Rehas 2004 endlich hinter mich gebracht habe, da stand ich selbst vor der Wahl: Entweder, ich lasse mich mit meiner 100-prozentigen Schwerbehinderung zum Vollinvaliden abstempeln - was für mich bedeutete, ich ergebe mich meinem Schicksal, ertränke mein Selbstmitleid in Alkohol und verfalle in Depression. Oder aber: Kopf hoch und versuchen, dem Ganzen einen Sinn zu geben."
Er entschied sich für Letzteres: Weiter geht\'s in der Bundeswehr! Es folgte eine dreijährige Laufbahnausbildung im gehobenen Dienst in der Bundeswehrverwaltung. 2007 erfolgte der Studienabschluss als Diplom-Verwaltungswirt. Seitdem kümmert sich der Magdeburger, inzwischen zum Regierungsoberinspektor aufgestiegen, um die Beratung und Berufsförderung von Soldaten auf Zeit.
Es scheint, Tony Ewert hat die Kurve gekriegt. Alles im Lot. Doch während er sich mit den körperlichen Handicaps arrangiert hat und die äußeren Narben durch zig Laserbehandlungen immer mehr verschwanden, wollen die seelischen Wunden nicht verheilen. Im Gegenteil. Erst mit der Zeit traten diese Leiden ans Tageslicht. In Form von sogenannten Flashbacks oder Alpträumen. Das ist für Menschen, die wie Tony Ewert nachweislich an einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, symptomatisch. "Am Anfang habe ich sehr viel verdrängt. Ich hatte kaum Erinnerungen an das, was am 7. Juni 2003 passiert war."
Durch die wie aus dem heiteren Himmel über ihn hereinbrechenden Flashbacks - diese zeigen sich durch den Geschmack von Blut oder Metall im Mund, einen lauten Knall, Kriegsbilder oder den Geruch von verbranntem Fleisch - hat sich das geändert. "Immer mehr Erinnerungsfetzen kamen zum Vorschein. Zum Beispiel, dass ich im Bus sitze und ,mein Bein, mein Bein\' schreie. Oder wie ich nach der Hand meines Sitznachbarn greife und sage: Alles wird gut."
In solchen Momenten wird Tony Ewert wieder zu dem Soldaten, der mit dem Tode ringt. Er bekommt Atemnot, ihm zittern die Knie und Panik packt ihn. Dann, so hat er es in der Therapie gelernt, hilft ihm nur noch eines: Mit dem Rücken zur Wand. Halt suchen. "Dann sitze ich da und bete die Sätze wie ein Mantra immer wieder vor mich her: Du bist sicher. In Deutschland. Dir kann nichts passieren. Alles ist gut."
Das letzte einschneidende Erlebnis dieser Art ist noch gar nicht so lange her. Auf der Autobahn A2 wurde der 33-Jährige von der Polizei langsam fahrend an einen Unfall vorbeigelotst. "Die Opfer lagen schwerverletzt und blutend noch im Wagen. Auf einmal war der Flashback da. Ich habe es gerade noch zu einem Rastplatz geschafft. Dort habe ich fast eine Stunde mit dem Rücken zur Wand gesessen, um halbwegs klarzukommen und zu funktionieren. Da wurde mir schmerzhaft bewusst. Es ist noch nicht vorbei. Es wird vielleicht nie vorbei sein."
Umso verwunderlicher ist, dass sich Tony Ewert in all den Jahren nie die Frage nach dem Sinn oder Unsinn seines Leidens gestellt hat. "Was soll ich beim Blick in dem Spiegel denn sagen? Ja, das war es wert, meinem Land gedient zu haben. Oder, nein, das war es nicht wert, denn ich wurde unschuldig zum Opfer."
Weder das eine noch das andere würde ihn weiterbringen oder zu einem glücklicheren Menschen machen, ist Tony Ewert überzeugt. Das Leben als solches ist es, wonach der junge Mann giert, der sieben Jahre lang "in einer sehr glücklichen Beziehung" mit seiner einstigen Ergotherapeutin lebte, aber seit zwei Jahren wieder Single ist. "Das Ganze ist jetzt zehn Jahre her, und ich habe mich mühsam zurück ins Leben gekämpft. Aber ich würde lügen, wenn ich sagen würde: Alles ist wieder gut, ich bin wieder der Alte."
Für einen kurzen Moment wird der sonst so unerschütterlich wirkende Mann sehr nachdenklich und berichtet von Fotos, die er "hasst wie die Pest", weil sie ihn schielend zeigen. Oder von Tagen, an denen er seine Prothese am liebsten aus dem Fester schmeißen würde. "Aber genauso weiß ich, dass ich kurz danach - egal wie - herunterkrauchen würde, um sie wieder aufzuheben." Tony Ewert will nur nach vorn schauen, nicht zurück. "Das Leben ist schön, das ist meine Grundeinstellung. Und die lasse ich mir nicht nehmen, da habe ich meinen Stolz." Denn sonst hätte der Selbstmord-Attentäter sein Ziel ja doch noch erreicht. "Und diesen späten Triumph gönne ich dem Wahnsinnigen nicht."