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Untersuchungen Patienten unter Druck

Jeder vierte Kassenpatient bekommt private Leistungen angeboten. Ihr Sinn ist umstritten. Etliche Patienten fühlen sich abgezockt.

Von Janette Beck 18.03.2019, 01:00

Magdeburg l Antje L. macht sich Sorgen. Die Rentnerin hat bei zehn Augenärzten in Magdeburg angerufen, keiner will oder kann sie als neue Patientin aufnehmen. „Alles voll, höre ich immer wieder.“ Zum Glück ist im Moment nichts Akutes, es geht eigentlich nur um eine jährliche Kontrolle. „Aber ich habe Angst, wenn wirklich mal was ist.“ Zuvor war sie jahrelang bei „ihrer“ Augenärztin im Bördekreis in Behandlung gewesen. Doch sie fühlte sich zunehmend unter Druck gesetzt. „Jedes Mal versuchte die Schwester, mir noch bei der Anmeldung am Tresen die Glaukom-Untersuchung zur Früherkennung des Grünen Stars aufzuschwatzen. Ich kam mir vor wie auf einem Basar“, erzählt die Rentnerin. Sie lehnte die privat zu zahlende Leistung ab. „Das roch mir zu sehr nach Abzocke. Außerdem hatte ich mich zum Für und Wider belesen.“
Was Anje L. zudem ärgerte: Sie wurde angehalten, eine Verzichtserklärung zu unterschreiben. Auch das lehnte sie ab. „Ich empfand es ungehörig, so unter Druck gesetzt zu werden.“
Das ist kein Einzelfall. Mehr als jedem vierten Patienten (29 Prozent) werden beim Arztbesuch IGeL angeboten. Die Kostenspanne reicht von 10 bis zu 1000 Euro. Das zeigt eine aktuelle Studie des Wissenschaftlichen Institutes der AOK (Wido). Befragt wurden 2000 Kassenpatienten. Die Glaukomfrüherkennung (Preise zwischen 15 und 50 Euro) ist die private Zusatzleistung, die den Patienten am zweithäufigsten angeboten wird. Ganz oben rangieren Ultraschalluntersuchungen. Allein diese beiden Angebote machen 45 Prozent des Marktes aus.
Die Studie zeigt zudem: In den meisten Fällen ging die Initiative vom Arzt aus (75 Prozent). Fachärzte „igeln“ zudem deutlich öfter als Hausärzte – Augenärzte beispielsweise siebenmal, Frauenärzte fünfmal so oft wie Allgemeinmediziner.
Und: Ob eine Zusatzleistung angeboten wird, hängt stark vom Einkommen und der Schulbildung ab – weniger von Alter und Gesundheitszustand. So bekamen 18 Prozent der Kassenpatienten ein Angebot, dessen monatliches Nettoeinkommen unter 1000 Euro lag. Fast doppelt so viele waren es bei jenen mit 4000 Euro Gehalt und mehr (35 Prozent). „Schon das nährt Zweifel am medizinischen Nutzen vieler Leistungen“, meint Klaus Zok, der die aktuelle Wido-Studie geleitet hat.
Für Verbraucherschützer Kai Helge Vogel belegt die Studie, dass trotz anhaltender Kritik viele Ärzte nach wie vor auf „IGeL“ setzen. Das Geschäft ist offenbar gewinnbringend. Der Jahresumsatz wird in Deutschland auf etwa eine Milliarde Euro geschätzt.
Ein besonderes Ärgernis seien die „Verzichtsformulare“, auf denen Patienten ihr Nein zu einer Leistung schriftlich bestätigen sollen, meint Vogel. „Dies schürt unnötig Druck und Angst.“
Johannes Schenkel, ärztlicher Leiter der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD) sagt der Volkstimme: „Das Sammelbecken an Zusatzleistungen ist riesig. Da gibt es sinnvolle, aber leider auch etliche, die hanebüchen sind.“ Schenkel meint: „Da drängt sich schon der Verdacht auf, dass Ärzte ihre Angebote aus rein finanzieller statt aus medizinischer Sicht machen.“ Jeder Arzt müsse sich fragen, ob sich sein Vorgehen mit dem hippokratischen Eid vereinbaren lässt, wird Schenkel deutlich. Der Patientenberater weist darauf hin: „Es gibt keinen Notfall-IGeL - alle medizinisch notwendigen Untersuchungen decken die Krankenkassen ab.“ Er rät: „Niemand sollte sich also drängen oder ein schlechtes Gewissen einreden lassen.“
Was sagen Ärzte? „Wir sehen das differenzierter“, sagt Bernd Franke, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Leistungen außerhalb des Katalogs können auch sinnvoll sein. Aber „natürlich darf kein Druck ausgeübt werden“.
Doch die Realität sieht nicht selten anderes aus. Simone Meisel von der Verbraucherzentrale Sachsen-Anhalt kennt die Sorgen. „Ich finde es bedenklich, dass Ärzte immer mehr zum Verkäufer werden und dass gerade bei älteren Menschen das jahrelang aufgebaute Vertrauensverhältnis ausgenutzt wird.“ Seit 2012 gibt es daher im Internet (www.igel-aerger.de) eine Beschwerde-Pinnwand. Außerdem geben die Verbraucherschützer Tipps, welche Fragen Patienten den Ärzten stellen sollten.