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Verfassungsschutz: Steigende Gefahr durch Rechtsextremismus

Extremisten sind auch in Sachsen-Anhalt häufiger gewaltbereit, konstatiert der Landesverfassungsschutz. Und will jetzt Agenten in die Online-Welt schicken - auch als Lehre aus dem Halle-Attentat.

14.07.2020, 17:20

Magdeburg (dpa/sa) - Sachsen-Anhalts Verfassungsschützer warnen vor einer steigenden Gefahr durch Rechtsextremisten und stocken ihr Personal auf, um die rechtsextreme Szene auch im Netz genauer zu beobachten. Zwar gab es zahlenmäßig mit 1230 Rechtsextremisten etwas weniger als im Vorjahr, wie Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) am Dienstag bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts für 2019 sagte. "Das Entscheidende ist aber, dass über die Jahre hinweg sich die Gefährlichkeit erhöht hat."

In Sachsen-Anhalt war die Zahl rechtsextremer Gewalttaten im Vergleich zu anderen Bundesländern voriges Jahr relativ hoch. Mit 71 als rechtsextrem eingestuften Fällen liegt Sachsen-Anhalt laut aktuellem Bundesverfassungsschutzbericht hinter Nordrhein-Westfalen (158 Taten), Berlin (150) und Brandenburg (90) auf Platz vier.

Die Gewaltbereitschaft habe zugenommen und reiche bis hin zu Morden, sagte Stahlknecht. Als Beispiel nannte er den rechtsextremen und antisemitischen Terroranschlag von Halle. Der schwer bewaffnete Attentäter wollte ein Blutbad in der Synagoge anrichten. Als er nicht ins Gotteshaus vordringen konnte, erschoss er zwei Menschen und verletzte weitere auf seiner Flucht, ehe er festgenommen wurde.

Mit dem Anschlag habe sich eine Gefahr verwirklicht, die Sicherheitsbehörden schon lange befürchtet hatten, sagte Verfassungsschutzchef Jochen Hollmann. Der 28-Jährige habe nicht in der Szene agiert, sondern sich individuell radikalisiert. Er sei den Sicherheitsbehörden vor der Tat nicht bekannt gewesen, habe aber in virtuellen Foren agiert. Jetzt will der Landesverfassungsschutz erstmals virtuelle Agenten einsetzen, um Extremisten im Netz besser aufspüren zu können.

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen typische Plattformen nach auffälligen Personen und Inhalten durchsuchen, wie Verfassungsschutz-Chef Jochen Hollmann am Dienstag sagte. Zudem gehe es darum, Informanten anzuwerben sowie falsche Identitäten aufzubauen, um die Szene zu infiltrieren. Damit verlagert der Verfassungsschutz gängige Aufklärungsmethoden wie V-Männer und verdeckte Ermittlungen ins Netz.

Die Suche nach geeignetem, netzaffinem Personal laufe derzeit, sagte Hollmann. Erleichtert werde die Einstellung dadurch, dass Innenministerium und Landtag zusätzliche Stellen genehmigt hätten. Statt 110 sollen künftig 120 Menschen beim Verfassungsschutz arbeiten. Die neuen Stellen entstehen in den Bereichen Rechtsextremismus und Rechtsextremismusprävention. Die Hälfte der neuen zehn Stellen solle an Wissenschaftler gehen, um die Analysefähigkeit zu stärken.

Neben Extremisten, die sich außerhalb der Szene radikalisieren, nannte Hollmann das Wirken der sogenannten Neuen Rechten als größte Herausforderung. Die Anhänger versuchten, ihre Ideologie möglichst weit zu verbreiten und seien dabei Stichwortgeber und geistige Brandstifter für rechtsextreme Gewalttäter. Zu dieser Strömung zählen die Verfassungsschützer auch die AfD mit ihrer Nachwuchsorganisation Junge Alternative und dem im Osten seit Jahren besonders einflussreichen "Flügel" um den Thüringer AfD-Chef Björn Höcke.

Ähnlich wie das Bundesamt sehen auch die Landesverfassungsschützer eine zunehmende Gewaltbereitschaft bei Rechts- wie auch Linksextremisten. Verfassungsschutzchef Hollmann sprach von linksextremistischen Kleingruppen, die im Geheimen agierten und gezielte Angriffe planten. Dabei würden auch vermehrt Rechtsextremisten und solche, die dafür gehalten würden, in den Blick genommen. "Schwere Verletzungen bis hin zum Tod werden billigend in Kauf genommen."

Als Beispiel nannte Hollmann einen Angriff im Januar 2019 in Dessau-Roßlau. Damals hatten sechs Vermummte eine vierköpfige Gruppe mit Hammer, Schlagring und Totschläger angegriffen, die von einer rechtsextremen Veranstaltung kam. Einen Überfall nach einem ähnlichen Muster habe es bereits 2016 in Oschersleben gegeben. In Sachsen-Anhalt werden 550 Menschen der linksextremen Szene zugerechnet, das sind 20 mehr als noch 2018. Rund 290 gelten als gewaltbereit.

Verfassungsschutzchef Hollmann warnte davor, dass Extremisten gezielt Themen aufgreifen, die sich ideologisch umdeuten lassen. "Im Bereich des Rechtsextremismus verschiebt sich das Sagbare immer weiter in die Mitte", nannte er ein Beispiel. Gleichzeitig versuchten Linksextremisten, sich etwa unter die Klimaproteste der Fridays-for-Future-Bewegung zu mischen.