Bischof Gerhard Feige erinnert an Opfer Predigt zum Jahrestag des Weihnachtsmarkt-Anschlags: „Die Finsternis ist immer noch da“
Anlässlich des ersten Jahrestags des verheerenden Anschlags auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt hat Bischof Gerhard Feige eine Predigt gehalten. Das sind seine Worte.

Magdeburg. - Genau ein Jahr ist es her, dass bei dem verheerenden Anschlag auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt sechs Menschen starben und Hunderte verletzt wurden. Zum ersten Jahrestag hielt Bischof Gerhard Feige eine Predigt beim Gedenkgottesdienst in der Johanniskirche. Seine Worte gibt die Volksstimme hier in Auszügen wieder:
„Wer ist mein Nächster?“ Diese Frage aus der Erzählung vom Barmherzigen Samariter hat es in sich. Und dann die Aufforderung Jesu zum Schluss: „Geh und handle genauso!“ Was für eine Zumutung – damals wie heute!
Magdeburger Bischof Feige: „Liebe zeigt, wer Hilfe braucht“
Letztendlich geht es ja um einen Blickwechsel. Jesus lässt sich nicht darauf ein, genau festzulegen, wer der Nächste sei, den es zu lieben gilt. Statt wie der Gesetzeslehrer darüber zu theoretisieren: „Wem soll ich helfen?“, legt er nahe, sich vielmehr zu fragen: „Wer wird mir oder wem werde ich zum Nächsten“?
Liebe definiert nämlich nicht den Nächsten, sondern entdeckt ihn. Wenn jemand in seinem Herzen Liebe hat, wird sie ihm zeigen, wer seiner Hilfe bedarf. Liebe geht deshalb auch über die Grenzen von Herkunft und Zugehörigkeit hinaus, damals wie heute. Liebe öffnet das Herz.
Während im Gleichnis die etablierten Personen – Priester und Levit – eher fragen: „Was wird aus mir, wenn ich dem, der unter die Räuber gefallen ist, helfe?“, ist der Samariter, der als Fremder zufällig des Weges kommt, von der Sorge erfüllt: „Was wird aus dem, der da liegt, wenn ich ihm nicht helfe?“
Zahlreiche Magdeburger helfen am Tag des Anschlags fremden Menschen
„Wer ist mein Nächster oder meine Nächste?“ Beispiellos haben zahlreiche Menschen am Tag des Anschlags vor einem Jahr darauf eine überzeugende Antwort gegeben, haben denen geholfen, die eben noch Fremde waren, ohne abzuwägen und zu unterscheiden, ohne zu sortieren und auszugrenzen.
Damit sind viele einander zu Nächsten geworden und haben dadurch die Finsternis nach dieser menschenverachtenden Tat durchbrochen und ein Licht angezündet.
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt bringt Chaos und Verwüstung
Wie bedeutsam ist doch Licht für unser Leben und Wohlbefinden, gerade am Ende des Jahres, wenn die Tage kürzer werden und wir im Advent auf Weihnachten zugehen! Unsere Sehnsucht danach ist groß. Das ist es auch, was viele mit dem Besuch eines Weihnachtsmarktes verbinden: in gemütlicher Atmosphäre und in der Begegnung mit anderen sich zu entspannen und des Lebens zu erfreuen.
Stattdessen aber hat der Anschlag Chaos und Verwüstung angerichtet und vielen Menschen unsägliches Leid gebracht. Und nach einem Jahr merken wir, dass die Finsternis immer noch da ist: Da sind Lücken, die der Verlust eines Menschen in Familien und Freundeskreise gerissen hat und sich nicht einfach wieder schließen.
Verletzungen an Körper und Seele heilen nicht so schnell
Unzählige tragen Verletzungen an Körper und Seele, die so schnell nicht heilen. Die Geräusche des Abends bleiben manchen bis heute im Ohr, das Gesehene im Gedächtnis; beides ruft immer wieder Erinnerungen hervor. Das Leben ist ein anderes, es ist ein Stück dunkler geworden.
Nie aber – davon haben wir beim Propheten Jesaja gehört – kann die Dunkelheit das ganze Licht erfassen. Immer wieder – so die Überzeugung gläubiger Menschen – lässt Gott es auf neue Weise aufflackern oder sogar erstrahlen.
Lichtermeer am Jahrestag als Zeichen der Hoffnung für Magdeburg
Und auch das Lichtermeer im vergangenen Jahr und am heutigen Abend vor dieser Kirche und an anderen Orten zeugt davon, dass wir die Hoffnung auf ein würdevolles und menschenfreundliches Miteinander zum Wohle aller und unseres Gemeinwohls nicht aufgeben.
Ein alter Rabbi fragte einst seine Schüler, wie man die Stunde bestimmt, in der die Nacht endet und der Tag beginnt. „Ist es, wenn man von weitem einen Hund von einem Schaf unterscheiden kann?“, fragte einer seiner Schüler. „Nein“, sagte der Rabbi.
Grundlage für friedliches Zusammenleben der Menschen
„Ist es, wenn man einen Apfelbaum von einer Birke unterscheiden kann?“, fragte ein anderer. „Nein“, sagte der Rabbi. „Aber wann ist es dann?“, fragten die Schüler. „Es ist dann, wenn du in das Gesicht irgendeines Menschen blicken kannst und darin deine Schwester oder deinen Bruder siehst. Bis dahin ist die Nacht noch bei uns.“
Statt sich selbst allein der Nächste zu sein oder Hass zu verbreiten und gegen andere zu hetzen, ist die Fähigkeit, auch in Fremden die Schwester oder den Bruder zu erkennen, gewissermaßen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben der Menschen und der Völker.
Sich dafür mit Fantasie und Tatkraft einzusetzen und darin nicht nachzulassen, sollte uns allen – egal, ob wir an einen Gott glauben oder nicht – ein Herzensanliegen sein.